Eifler Zorn
die Hermann genannt hatte, ohne den Hörer aufzulegen.
»Hallo?«
Judith erläuterte dem
freundlichen Herrn am anderen Ende der Leitung ihr Anliegen, beantwortete
einige Fragen und hatte wenige Minuten später einen Termin und eine Adresse.
Sie schaute auf die Uhr. Wie sie Sauerbier einschätzte, würde er Bianca Friese
warten lassen. Wenn sie sich beeilte, könnte sie rechtzeitig zur Vernehmung
wieder auf der Wache sein. Im Hinausgehen drückte sie auf die Wahlwiederholung
ihres Handys. Als Inas Mailbox ansprang, berichtete sie kurz von ihrem Gespräch
mit Hermann Stein und dessen Ergebnis, richtete pflichtgemäß Grüße und
Meldebefehl aus und erweiterte diese Bitte auch auf sich selbst. »Melde dich
mal, bevor wir alle anfangen, uns Sorgen zu machen.«
Auf dem Salzberg folgte
sie der Hauptstraße beinahe bis zum Ende, um kurz vorher links abzubiegen. Über
das Lenkrad gebeugt suchte sie die Häuser nach den Hausnummern ab und fand die
richtige auf der linken Straßenseite, drehte den Wagen in dem kleinen
Wendehammer und parkte neben der Ausfahrt. Der pensionierte Geschichtslehrer
wohnte in einem großen Haus, das, wie viele in dieser Wohngegend, den typischen
Charme der siebziger Jahre ausstrahlte. Sie schellte und hörte Schritte hinter
der Haustür.
»Frau Bleuler?« Der ältere
Herr sah genauso freundlich aus, wie seine Stimme sich am Telefon angehört
hatte. Judith nickte. »Bitte kommen Sie rein.« Er wies auf eine offene
Holztreppe, die sich in den ersten Stock hinaufwand. »Ich darf vorausgehen?«
Automatisch putzte sie sich
die Schuhe an der Fußmatte ab, betrat den Hausflur und folgte ihm, nachdem sie
die Tür hinter sich geschlossen hatte, nach oben.
»Wissen Sie, ich arbeite
zurzeit selbst an einem Artikel über dieses Haus. Ich hatte schon länger mit
dem Gedanken gespielt, aber erst jetzt, wo es abgerissen wird, komme ich auch
dazu.« Sie hatten den ersten Stock erreicht. »Ich hoffe, Ihnen die Auskünfte
geben zu können, die Ihnen weiterhelfen«, sagte er über seine Schulter hinweg
zu Judith und öffnete bei den letzten Worten die Tür zu einem kleinen Raum,
über dessen Wände sich Buchregale vom Boden bis zur Decke erstreckten. Nur die
Türöffnungen und das Fenster waren frei geblieben. Auf den Regalbrettern
reihten sich unzählige Bücher aneinander. Alte Lederbände neben neuen
Broschüren, Lehrmittelsammlungen, alphabetisch sortierte Buchreihen,
Taschenbücher, Folianten.
»Wow!« Beeindruckt sah
Judith sich um und sog die Luft ein. Sie mochte diesen Geruch nach
Gelehrsamkeit, er erinnerte sie an das Arbeitszimmer ihrer Großmutter, die eine
leidenschaftliche Leserin und Hobbygeologin gewesen war.
»Nehmen Sie doch Platz.« Er
zeigte auf einen der beiden Stühle, die links und rechts neben einem Tisch vor
dem Fenster standen, und verschwand kurz in einem kleinen Nebenraum. Mit einem
Stapel Unterlagen kam er zurück. »Sie wollten etwas über das Anwesen erfahren?«
»Ja.«
»Warum, wenn ich fragen
darf?«
Judith wägte ab. Über
laufende Ermittlungen durften keine Einzelheiten an Personen weitergegeben
werden, die nicht direkt damit zu tun hatten. Aber um an die Informationen zu
kommen, die sie benötigte, musste sie ihm die Sachlage schildern.
»Wir haben Probleme damit,
die Liegezeit der Leiche und damit den Todeszeitpunkt zu bestimmen«, erklärte
sie, »an dem Körper selbst ist es nicht möglich. Nur mit Hilfe von Artefakten
können wir es in Jahren eingrenzen, stand im Bericht des Rechtsmediziners. Wenn
wir wissen, wer wann in dem Haus gelebt hat, erleichtert das die Sache
ungemein.«
»Was ist das für eine
Leiche?«
»Ein Junge. Oder ein junger
Mann. Ungefähr fünfzehn Jahre alt.«
»Wobei man vielleicht in
Erwägung ziehen sollte, dass das biologische Alter der Knochen nicht unbedingt
dem chronologischen entspricht.«
»Bitte?«
»Sie sagten mir gerade, dass
Sie vermuten, es handele sich um die Knochen eines etwa fünfzehnjährigen
Jungen. Sie konnten anhand der Untersuchung des Leichnams aber möglicherweise
nicht feststellen, ob der Junge krank oder gesund war. Oder wie er gelebt hat,
in armen oder wohlhabenden Verhältnissen. Solche Faktoren können den
Gesamtzustand des Körpers so beeinflussen, dass die Angaben ungenau werden.«
»Diese Aussage habe ich vom
Rechtsmediziner«, erwiderte Judith, verblüfft darüber, welches Wissen in dem
Mann steckte.
»Und um welche Artefakte
geht es?«
»Um die Kiste, in der die
Leiche gelegen hat. Der Junge selbst war
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