Eifler Zorn
an das Abtrennen erinnern und wissen auch nicht mehr,
was Sie danach mit den Händen getan haben. Sie bewahren sie nur in Ihrem
Wohncontainer auf. Wieso sollen wir Ihnen glauben, dass nicht Sie Arno Koblers
Mörderin sind?« Sie spürte seinen Atem und hielt ihn aus.
»Weil er …« Sie brach
ab und sammelte sich. »Weil doch nur seine Hände schlecht waren.« Sie spürte,
wie die Tränen in ihren Augen brannten und sich stauten. Nicht fließen konnten,
weil es nicht die Wahrheit war. Nicht allein seine Hände waren schlecht. Er,
Arno, hatte sie geschlagen. Seine Hände waren ein Teil von ihm. Das Schlechte
war ein Teil von ihm.
»Erzählen Sie uns, an was
Sie sich erinnern«, bat Judith Bleuler. »Versuchen Sie es.«
Sie musste sich
konzentrieren, in sich kriechen auf der Suche nach dem, was aus ihrer
Erinnerung verschwunden war. Bilder stiegen in ihr auf, verschoben,
verschwommen, klärten sich und gaben den Blick frei. Die Baugrube.
»Er lag da. An fast der
gleichen Stelle wie der tote Junge aus der Kiste am Tag zuvor, seine Arme und seine
Beine so komisch verschränkt. Als ob ihn jemand hinuntergeworfen und dann noch
einmal zurechtgelegt hätte. Ich bin zu ihm hinuntergestiegen, über die Leiter,
bin näher ran, und dann hab ich erst gesehen, dass er es war. Er hatte Blut am
Kopf, auf dem Gesicht, in den Haaren, überall. Ich wusste sofort, dass er tot
war. Seine Augen standen offen, und die Fliege lief darüber. Er hat nicht
gezuckt. Oder versucht, sie zu verscheuchen. Verstehen Sie? Niemand kann eine
Fliege über sein offenes Augen laufen lassen. Niemand. Da wusste ich es.«
»Haben Sie an der Baustelle
sonst noch jemanden gesehen?«, fragte Sauerbier.
»Nein. Da war außer mir
niemand.«
»Was haben Sie dann
gemacht?«
»Die Säge aus meinem Bagger
geholt«, antwortete sie, erstaunt über die Ruhe, die sich langsam in ihr
ausbreitete.
VIERZEHN
»Heh, du! Aufstehen!« Schritte poltern über den Holzboden des
Schlafsaals, noch während die Tür mit lautem Krachen gegen die Wand schlägt.
Paul reißt die Augen auf, springt aus dem Bett. Nimmt automatisch Haltung an.
Der Raum ist voller Menschen. Die Jungen stehen in der Mitte des Ganges,
schwankend vom Schlaf. Niemand beachtet sie. Männer in dunklen Anzügen und
grauen Kitteln beugen sich wie hungrige Raben über Ludwigs Bett, schlagen und
zerren ihn hoch. Paul sieht, wie er schützend die Hände über den Kopf hebt.
Zwei ältere Jungen nehmen Ludwig an den Oberarmen, schleppen ihn mehr, als dass
er selbst läuft, zwischen sich aus dem Saal die Treppe hinunter.
»Wer
hatte Wachdienst?«
Paul
tritt vor. An seinen Füßen klebt grünlich braune Erde. »Ich.«
»Mitkommen.«
Er folgt.
Im großen
Saal kämpfen einige wenige Lichter die Schatten nieder. Es ist früh. Fast noch
mitten in der Nacht, und alles im Raum zeigt, wie hastig die Vorkehrungen
getroffen wurden. Das Feuer im Kamin brennt zögerlich, die schweren Vorhänge,
halb zur Seite gezogen, schwingen hin und her und wirbeln den Staub des
vergangenen Tages auf.
Am
Kopfende der langen Tafel steht der Direktor. Auch er wirkt überrumpelt,
derangiert und rückt sich eilig die Kleidung gerade. Neben ihm die anderen,
Erzieher, Meister, sogar die Frau des Direktors ist anwesend. Auf einem Stuhl
sitzt, zusammengesunken und einen Kopfverband wie eine Krone tragend, Löhbach.
Sein linkes Auge ist geschwollen und blutunterlaufen, aus dem rechten kriechen
Schmerz und Hass. Paul holt gegen den Widerstand seiner Rippen, die sich wie
ein Band zusammenschnüren, Luft. Er hat ihn nicht totgeschlagen. Doch die
Erleichterung darüber, nicht die größte aller Sünden begangen zu haben, weicht
der Angst vor dem, was kommen wird. Vor dem Zerbrechen seiner Zukunft. Sie
schlängelt sich durch sein Rückgrat, stellt die Haare auf seinen Armen auf und
schaudert über die Haut in seinem Nacken. Es war alles umsonst. Er schaut sich
um. Ein Tier in der Falle, kein Ausweg, kein Entweichen. Ihm ist übel. Sein
Magen ballt sich zu einem Knoten, und er würgt. Trocken. Kämpft alles, was in
ihm aufsteigen will, nieder, als er Ludwig sagen hört: »Ja, ich habe es getan.«
Paul
erstarrt. Was sagt Ludwig da? Er reckt den Hals, schaut über die Schultern der
Umstehenden in das Gesicht des Freundes.
Der
Direktor hat sich drohend vor ihm aufgebaut. »Und du warst allein,
Ehrenscheid?«, fragt er mit eisiger Stimme.
»Ja.«
Kein Wort
über Frieda. Nichts über ihn. Paul schüttelt sich. Glaubt Ludwig wirklich, er
habe
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