Eifler Zorn
Eng. Dunkel.
Die Farbe der Wände hatte sie an ihre Kindheit erinnert, als schlammiges Braun,
milchiges Orange und stumpfes Grün die Modefarben gewesen waren und sie selbst
sich nicht hatte dagegen wehren können, dass die Wände ihres Zimmers mit wilden
Mustern überzogen wurden. Sie mochte es nicht. Weder damals noch heute, wo es
nicht alt wirkte, sondern irgendwie vergessen. Sie hatten ein Büro betreten.
Sie hatte sich auf den Stuhl gesetzt, den der Beamte ihr an die Seite des
Tisches geschoben hatte, auf die äußerste Kante, bereit zum Sprung. Dann hatte
sie lange gewartet.
Sie wollte nicht hier sein.
Sie wandte den Kopf zur Seite, die Tür zum Flur stand weit offen. Die junge
Beamtin, die sie von der Baustelle kannte, ging vorbei, sah herein und schien
zu überlegen, ob sie reinkommen sollte, entschied sich aber dagegen. Sie hatte
sich verändert. Bianca dachte darüber nach, was sie irritiert hatte. Die
Beamtin machte so einen frischen, kühlen Eindruck. Aufgeräumt und klar. Sie
schloss die Augen, wartete auf das Bild. Als es kam, lächelte sie. Die Haare
hatten sich verändert. Sie hatte eine neue Frisur. Eine neue Farbe. Viel
kürzer. Unwillkürlich streckte Bianca die Fingerspitzen aus, berührte ihre
eigenen dichten, langen Haare, an die sie nie zu rühren gewagt hatte.
Vielleicht wurde es Zeit. Sie rutschte noch ein Stück weiter nach vorne auf dem
Stuhl. Sie hatte das Gefühl, hinter einer Glasscheibe zu sitzen und wie ein
Tier im Zoo beobachtet zu werden. Reizvoll, aber ungefährlich, weil unnahbar.
»Etwas zu trinken?« Ein
anderer Beamter als der, der sie hergeführt hatte, stellte zwei Gläser in die
Mitte des Tisches, schraubte eine halb leere Flasche auf und goss in das vor
ihm stehende Glas Wasser ein. Ein paar müde Kohlensäureblasen stiegen an die
Oberfläche und zerplatzten. Sie kannte ihn von der Baustelle.
»Nein.«
»Kaffee?«
Sie stellte sich das heiße
Getränk auf ihrer Zunge vor und nickte stumm. Der Beamte stand auf, verließ das
Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie hörte seine Schritte auf dem Flur
erst leiser, dann wieder lauter werden. Als sich die Tür wieder öffnete, fiel
ihr ein, dass sie noch nicht einmal nachgeprüft hatte, ob die Tür abgeschlossen
gewesen war oder sie einfach hätte gehen können. Er reichte ihr den
Kaffeebecher, setzte sich und schaltete ein Aufnahmegerät ein. Er nannte seinen
und ihren Namen, das Datum, die Uhrzeit. Er hieß Sauerbier.
»Frau Friese. Sie wissen,
warum Sie hier sind?«, fragte er leise. Sie antwortete nicht. Starrte weiter
vor sich ins Nichts. Nur ihre Hände arbeiteten. Sie knetete, zupfte an ihren
Fingern und umfasste abwechselnd mit der einen das Gelenk der anderen Hand. Die
junge Beamtin trat ein, nickte Sauerbier kurz zu und setzte sich ans andere
Ende des Tisches.
»Guten Morgen, Frau Friese«,
sagte sie unter ihrer neuen Frisur. Nun fiel Bianca auch ihr Name wieder ein,
Judith Bleuler hieß sie. Sauerbier räusperte sich.
»Beiden Leichen, die wir im
Tagesabstand auf der Baustelle gefunden haben, die Ihr Arbeitsplatz ist, wurden
die Hände auf die gleiche Art und Weise – und, wie unsere Kriminaltechniker
sagen, auch mit dem gleichen Werkzeug – abgetrennt. Die erste Leiche haben Sie,
laut ihrer eigenen Zeugenaussage, in einer Kiste gefunden. Auf der zweiten
konnten wir Spuren mit Ihrer DNA nachweisen.
Können Sie uns das erklären?«
Sie wollte Sauerbier nicht
ansehen, sponn sich ein. Wie eine Raupe in ihrem Kokon. Dabei konnte sie den
Blick nicht von seinen Händen wenden. Waren das gute Hände? Sie erkannte
einzelne dunkle Haare auf den Fingergliedern, einige graue.
Judith Bleuler stand auf,
nahm ihren Stuhl und stellte ihn leise und behutsam neben dem ihren ab. Sie
setzte sich, rutschte auf dem Stuhl nach vorn, ließ die Schultern hängen und
senkte den Kopf, ohne sie aus den Augen zu lassen. Bianca hatte das Gefühl, in
einen Spiegel zu sehen.
»Was haben die Hände getan?«
Sie zuckte zusammen. Was
wusste sie? Woher wusste sie? Judith Bleuler wartete. Sauerbier holte tief Luft
und ließ sie, als Judith die Hand hob, zischend wieder entweichen. Sein Stuhl
knackte, als er sich nach hinten lehnte und die Arme vor der Brust
verschränkte. Judith Bleuler schwieg immer noch. Bianca kaute auf ihrer
Unterlippe herum, unschlüssig darüber, ob sie die Worte hinauslassen sollte.
»Ich konnte sie
nicht …« Sie brach ab. »Er war schon tot. Ich habe ihn nicht …«
»Was haben Sie mit den
Händen gemacht,
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