Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Abend im Club

Ein Abend im Club

Titel: Ein Abend im Club Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Gailly
Vom Netzwerk:
Jamie und Dingo sind da. Stille. Nicht Lautlosigkeit, man hört den Boulevard, gedämpft durch sechs Stockwerke Abstand und drei Doppelglasfenster. Stille als Schweigen. Es ist fast 19 Uhr. Dingo, immer noch unter dem Sofa versteckt, wird sich vielleicht hervorwagen. Das Telefon klingelt.
    Anne und Jamie sehen sich an. In diesem Blickwechsel liegt alles, was sie sich Beruhigendes gesagt haben, alles, was sie gedacht, jedoch nicht gesagt haben, um sich nicht gegenseitig zu quälen, und alle Worte und Gedanken in Richtung auf das Telefon zielten ausschließlich darauf ab, es klingeln zu hören. Und nun klingelt es. Und jedem wird bei diesem Blick in die Augen des anderen klar, dass die Unruhe zwischen ihnen mit einer Frage kämpft, die sie beide in der gerade abgelaufenen knappen Stunde nicht zu stellen wagten:
    Wie wird er, wie werde ich es ihm beibringen? Das Telefon klingelte. Simon in dem hellen Zimmer zum Meer wurde allmählich ungeduldig. Er war kurz davor aufzulegen. Soll ich rangehen?, fragte Anne. Das Gesicht in Auflösung, erwiderte Jamie Nein, ich tue es schon. Er näherte sich dem Telefon. Als er abnahm, durchfuhr ihn ein Gedanke: Und wenn ich ihm nicht die Wahrheit sage?
    Ja, warum nicht? Nur dass eine Lüge, eine echte, die schön ist wie die Wahrheit, damit sie hält und dauert und bis ans Ende aller Generationen allem trotzt, vorbereitet sein will, fein ausgearbeitet, sonst stolpert früher oder später doch die Sprache darüber.
    Jamie zum Beispiel hätte ohne große Hoffnung improvisieren und seinem Vater sagen können: Bleib, wo du bist, zurückzukommen wäre zwecklos, Maman ist mit einem Argentinier auf und davon, sie hatte genug von dir, sie hat mir aufgetragen, es dir zu sagen, du kannst dich ruhig weiter rumtreiben, saufen, Jazz spielen, Maman kommt nicht.
    Dingo streckte die Nasenspitze unter dem Sofa vor und sah, dass der Korb noch nicht weggeräumt war. Er verschwand wieder in seinem Versteck.
    Hallo, meldete sich Jamie. Ich bin’s, Papa, sagte Simon, du hast mich angerufen, wusstest du, wo ich bin? Ja, sagte Jamie, Maman hat mir die Nummer deines Hotels dagelassen. Aha, sagte Simon, sehr gut, aber sag mal, warum rufst du mich an, was ist los, deine Mutter kommt nicht, warum ruft sie nicht selbst an, ist sie mit ihrem Chef auf und davon?
    Jamie: Das würde dir so passen. Stimmt, mein Junge, sagte Simon, das würde mir passen, soll ich dir sagen, warum? Nein, sagte der Junge. Ich sage es dir trotzdem, gab der Vater zurück: Ich habe hier eine außergewöhnliche Frau kennen gelernt, die Frau, bei der man sich sagt, das ist die Frau meines Lebens, und seither habe ich nur noch einen Gedanken im Kopf, sie heiraten und dann.
    Und dann was?, fragte Jamie. Und dann wieder Klavier spielen, neu anfangen, meinen Beruf wieder ausüben, sagte Simon, verstehst du das? Ja, sagte Jamie, verstehe ich, aber was soll ich dann Maman sagen? Die Wahrheit, sagte Simon, einfach die Wahrheit. Und wollte noch hinzufügen: Aber das musst doch nicht du ihr sagen, das ist meine Sache. Er hörte ein Geräusch, als wäre das Telefon hingefallen.
    Anne übernahm das Gespräch. Sie griff nach dem Telefon, das ganz warm war und nass von Schweiß und Rotz und Tränen. Jamie konnte nicht aufhören zu schniefen. Der Kleine hat Schnupfen, dachte Simon. Hallo, Monsieur Nardis, sagte Anne, ich bin’s, Anne. Ach, Sie sind’s, sagte Simon, guten Tag, meine liebe Anne, was ist da eigentlich los, warum telefonieren Sie jetzt mit mir, ist er böse?
    Nein, sagte Anne. Also was hat er denn dann, er putzt sich dauernd die Nase, hat er Schnupfen? Er weint, sagte Anne. Meinetwegen? Das war nur ein Scherz. Ich weiß, sagte Anne, auch mit mir treiben Sie immer nur Ihren Scherz, aber das ist nicht der Grund, warum Jamie weint. Simon: Warum also, sagen Sie mir nun endlich, was los ist?
    Anne spürte, wie ihr der Mut zerfloss, ein Gefühl von sich leerendem Körper, auch sie würde gleich weinen. Man tat ihr weh. Ihr Widerspruchsgeist erwachte, sie beschloss, schonungslos und schnurstracks zur Sache zu kommen, oder zumindest fast:
    Suzanne hatte einen Unfall, sagte sie. Das wundert mich nicht, sagte Simon, sie fährt wie der letzte Henker, und dann dieser Einfall, mich hier abzuholen, jetzt muss man ihr irgendwo aus der Patsche helfen, nehme ich an, wo ist sie? Im Krankenhaus, sagte Anne. Himmel noch mal, sagte Simon, hätten Sie mir das nicht eher sagen können?
    Suzanne hatte einen Unfall, sagte er zu Debbie, sie ist im Krankenhaus. Ist es

Weitere Kostenlose Bücher