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Ein abenteuerliches Herz

Ein abenteuerliches Herz

Titel: Ein abenteuerliches Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Ludwig Arnold
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jungen Garde, die dort, kaum daß sie lesen gelernt hat, in den Cafés den Meistern über die Schulter blickt und schon vor dem zwanzigsten Jahr eine enorme Spielstärke gewinnt. Der Vater hatte ihn im Romanischen Café kennengelernt, wo er mit Amateuren spielte, die Partie um fünfzig Pfennig oder, wenn es hoch kam, um eine Mark. Beim Schachspiel geht es wie in der Lyrik oder anderen Schönen Künsten: der erste Rang ist nur von Einzelnen besetzt oder gar ledig, dicht hinter ihm wird die Konkurrenz gleich sehr stark.
    Rotlevi war lang, hager, kränklich; die Nase ragte wie ein Papageienschnabel aus dem olivgrünen Gesicht. Bei uns war er zum ersten Mal auf dem Lande; der Garten, dann Feld und Wiesen waren ihm eine neue Welt. Den Wald vermied er; der schien ihm unheimlich. Bald merkte er, daß die Gänge ihm gut taten, ihn auf eine Weise belebten, die er nie gekannt hatte. Er streifte lieber mit uns Kindern durch die Gegend, als daß er mit dem Vater spielte, und wurde zum unermüdlichen Wanderer, doch ging er ungern allein. Noch spät am Abend kam er und forderte mich zu einem Gang in die Heide auf, von dem wir erst gegen Mitternacht zurückkehrten.
    Ich begleitete ihn gern. Sein Aufenthalt muß für mich in jenes Alter gefallen sein, in dem uns die Gesellschaft der Erwachsenen, der wir kurz vorher noch auswichen, zum Erlebnis und selbst zum Abenteuer wird. Die neue Welt wird zwar noch nicht gesehen und noch weniger begriffen, obwohl sie sich im Umriß wie am Ende einer Seefahrt ankündet. Wir wissen nicht, ob es Wolken oder Berge sind.
    So kommt es, daß ich fast vergessen habe, was wir in der Nacht verhandelten, wenngleich die Stimmung sich gut erhalten hat. Für meinen Begleiter war bislang der Alltag das Caféhaus gewesen, der Festtag das Turnier. Einmal war er zum Wettkampf mit anderen bei einem Großfürsten zu Gast gewesen; inmitten des Aufwandes hatte ihn der Gedanke an das Trinkgeld bedrückt. Wenn man im Hotel vergeblich auf Geld hoffte, mußte man sinnen, am Portier vorbeizukommen; man wartete draußen vor der Glastür auf den Augenblick, in dem er beschäftigt war, und drückte sich dann die Treppe hinauf.
    Offenbar brauchte er einen Vertrauten und nahm mit mir vorlieb. Wohl hätte er einen verständigeren Zuhörer finden können, doch keinen begierigeren. So pflegt der erste Roman auf uns zu wirken, weniger durch seinen Inhalt als durch den Einblick in eine neue Welt. Eines konnte mir nicht verborgen bleiben: die schwere Melancholie, die diesen Erwachsenen bedrückte, der im Grunde nur wenig älter war als ich. Doch wiegen in diesem Alter die Jahre schwer.
    Zum ersten Mal im Leben begegnete ich hier einem Typus, der mit der Differenzierung der Gesellschaft immer häufiger auftritt: frühreifer Begabung auf einem Feld der Schönen Künste, die den Kenner überrascht und entzückt. Soll nun die Existenz darauf gegründet werden, so ergeben sich Probleme besonderer Art. Das Spiel ruht in sich selbst als Frucht der Muße; wo es zum Mittel wird, können böse Erfahrungen nicht ausbleiben.
    Von solchen Sorgen hatte ich nur eine unklare Vorstellung. Aber was sind Sorgen anders als sichtbare und veränderliche Schatten, die auf ein unsichtbares und unveränderliches Leid deuten? Die Sorgen wechseln, die Sorge bleibt. Das teilte sich mir mit und bedrückte mich schwer, als wir durch die Nacht schritten. Es ergriff mich wie ein Alb, wie eine bleierne Wolke, die über dem Haupt des Gastes lastete.
    »Bad« Rehburg, auch »der Brunnen« genannt, war ein Kurort, der den Besuchen des Hannoverschen Hofes sein Ansehen verdankte und der sich wenig verändert hatte, seitdem der Blinde König gegangen war. In Menckes Hotel hatte man ihn noch gut gekannt, auch im »Herzog von Cumberland«. »Stadt« Rehburg war kaum mehr als ein entlegenes Heidedorf. Dort gab es noch Häuser ohne Schornstein, bei denen der Rauch durch die Dielentür nach draußen zog. Es roch nach Torf, nach Kühen, nach den Schinken und Speckseiten, die über der Tenne hingen, nach dem moorigen Bach, der das Wasser des Steinhuder Meeres zur Weser hinabführte. Es durchfloß die Schwimmenden Wiesen, an deren Rändern Kranich und Reiher fischten, dann ausgedehnte Brüche, auf denen im April der Kiebitz brütete. Um diese Zeit sahen wir auch schon die Störche die Stichgräben abschreiten.
    Die Bauern pflügten mit Kühen; Roggen, Hafer, Kartoffeln, Buchweizen wurden gebaut, auch Lupinen seit kurzer Zeit. Viel anders konnte es hier nie ausgesehen haben, nach

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