Ein abenteuerliches Herz
Mardorf, nach Leese, nach Nienburg hin. Das Moor ist geschichtslos; da ist mehr Wesendes als Werdendes, graues und braunes Nornengespinst. Die Römer waren kaum hier gewesen; Germanicus hatte das Land nur gestreift und ganz in der Nähe, »einen Fluß in der Front und einen See im Rücken«, erfolglos operiert. Zuvor waren sie durch den Teutoburger Wald gezogen und hatten dort an den Bäumen bemooste Schädel von Menschen und Pferden gesehen, Relikte der Varusschlacht. Karl der Große hatte das Weihwasser gebracht, allerdings, wenn man den Pastoren glauben wollte, mit nicht viel größerem Erfolg. Immerhin war das Kloster Loccum in der Nähe; die Zisterzienser bauten sich wie die Biber gern in solchen Sümpfen an. Jahrhundertelang hatten die Münchhausens hier eine Burg besessen; sie war in der Hildesheimer Stiftsfehde so gründlich zerstört worden, daß keine Spur mehr geblieben war. Beim Pflügen kamen zuweilen Ziegel und steinerne Kugeln hoch.
Rotlevi ging schnell, als ob er eine Pflicht oder eine heilsame Übung verrichtete. Selbst im Krug war es schon dunkel, nur beim Pastor brannte noch Licht. Wir sahen ihn vor der Haustür stehen; er litt an Atemnot, die ihn in schwülen Nächten wie dieser ins Freie zwang. Er ging dann vor der Kirche auf und ab und legte sich Gedanken für den Sonntag zurecht. In der Predigt suchte er die Bauern beim alten zu halten und bekämpfte die neuen Moden, wie etwa die der Gardinen, die um diese Zeit aufkamen. In ihm war viel Unruhe; eines Tages war er verschwunden und blieb trotz allen Nachforschungen verschollen; nach Jahren wollte ein Soldat ihm während des Krieges in Polen begegnet sein. Andere meinten, daß ihn die Freimaurer »ausgelost« hätten, und wieder andere, daß er bei einem seiner nächtlichen Gänge in ein Moorloch gefallen sei, wie es seltsamerweise einem seiner Vorgänger zugestoßen war, von dem man auch nie wieder gehört hatte.
Wir ließen den Ort im Rücken und gingen noch ein Stück die Nienburger Landstraße entlang, bis wir am Waldrand umkehrten. Zur Rechten lag der Friedhof; wir hatten unlängst ein Brüderchen dort begraben, das in der Wiege gestorben war. »Ich wußte schon, warum ich dich Felix genannt habe«, sagte die Mutter, als sie von ihm Abschied nahm.
Den kleinen Judenfriedhof auf der anderen Seite umringte ein niedriger Wall von Findlingen. Es mußte vieler Jahre bedurft haben, um den Heidesand mit all den Gräbern zu beschicken, denn es lebten immer nur eine oder zwei jüdische Familien im Ort, Schlachter und Lederhändler – Hammerschlag, Hamlet, Löwenstein. Der Urgroßvater Hamlet war im Walde von einem Handwerksburschen erschlagen und seiner Barschaft von acht Pfennigen beraubt worden. Chamisso hat die Untat und ihre späte Sühne in einem Gedicht geschildert, das damals in keinem Lesebuch fehlte: »Die Sonne bringt es an den Tag«.
An der Abzweigung nach Mardorf oder nach Maderup, wie es auf Platt genannt wurde, stand eine Gruppe sehr alter Scheunen, die nach dem Weltkrieg abbrannten. Vermutlich hatten Stromer dort genächtigt und geraucht. Der Zugang war nicht schwierig, denn es gab Lücken, an denen der Lehm aus dem Fachwerk gefallen war. Unten wurden Feldfrüchte, oben Heu und Stroh verwahrt. Auf unseren Streifzügen pflegten wir uns dort einzuschleichen, um uns mit Kartoffeln zu bewerfen und anderen Unfug zu treiben, wenn niemand in der Nähe war. Einmal hätte uns fast der Bauer erwischt; wir konnten eben noch die Leiter hinaufklettern und uns im Heu verstecken, als er schon die Tür aufschloß. Als er die Unordnung bemerkte, begann er gräßlich zu fluchen, während uns oben der Atem stockte, aber offenbar hatte er uns nicht gehört. Seitdem mieden wir den Ort. Das Erlebnis ging mir nach, und zwar mit einer Stärke, die seinen episodischen Charakter bei weitem übertraf. Es wiederholte sich in Träumen, in denen es sich auf mannigfache, doch stets bedrückende Weise spiegelte.
Der Schachfreund ging noch schneller, um sich zu ermüden; er hatte die Erschöpfung durch körperliche Anstrengung als eine ihm bisher unbekannte Wohltat entdeckt. Ich konnte mit ihm leicht Schritt halten, denn wir legten, wie wir es im »Lederstrumpf« gelesen hatten, oft lange Strecken in einer Art von Hundetrab zurück. Wir sprachen dabei über dieses und jenes, und immer hing seine Schwermut bleiern über dem Gespräch.
Als wir die Friedhöfe wieder passiert hatten, hielten wir bei den Scheunen ein wenig an. Im Mondlicht sah ich das bleiche Gesicht;
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