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Ein abenteuerliches Herz

Ein abenteuerliches Herz

Titel: Ein abenteuerliches Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Ludwig Arnold
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es war immer, und nicht nur, wenn es sich beim Spiel konzentrierte, Bewegung darin, als ob feine Spiralen sich krümmten und wieder ausstreckten. Zu meinem Erstaunen hörte ich mich sagen, und ich erschrak, als ich es gesagt hatte:
    »Herr Rotlevi, ich halte das nicht länger aus. Ich kann nicht begreifen, warum Sie so traurig sind.«
    War es eine Frage, eine Klage, eine Anklage? Ein Wagnis auf jeden Fall. Noch mehr erstaunte mich, daß ich auch eine Antwort erhielt – einer der Großen vertraute mir sein Geheimnis an. Ich sah ihn im Schatten des Strohdachs die Hände emporheben wie einen der alten Propheten, der während einer langen Dürre um Regen fleht:
    »Was ist ein Leben ohne Liebesglanz?«
    War es ein Anruf, eine Gegenfrage? Ich ahnte es nicht; eine Klage war es gewiß. Ich kannte auch den Dichter nicht, der hier zitiert wurde. Aber ich fühlte, daß dem nichts hinzuzusetzen war. Wir gingen still durch den Ort zurück.
    Auch dieses Gespräch blieb, ähnlich wie die Erinnerung an den Einbruch in die Scheune, mit großer Stärke in mir haften; zum ersten Mal kam eine Frage, auf die es keine Antwort gab. Auch das ist eine der Marken, die das Ende der Kindheit ankünden.
    Rotlevi entschwand dann bald aus unserm Gesichtskreis; er muß in den Wirbeln des Ersten Weltkrieges untergegangen sein. Auch im »Milieu« wußte man nichts mehr von ihm. Seine Spur ist verschwunden bis auf einige schöne Partien in den Jahrgängen der Schachblätter.
    Dieses Verschwinden hat mich immer beunruhigt, auch wenn ich auf schon halb bemoosten Gräbern Namen entzifferte. Schnell hinter Booten und Schiffen glättet sich die Bahn. Oft sind wir die einzigen, die den flüchtigen Gast noch im Gedächtnis haben; mit uns stirbt er noch einmal, zerbricht die letzte Stele, in die sein Name eingegraben war. Daher kommen die Toten auch immer wieder, selbst alte Feinde, und klopfen bei uns an.
    Die Mutter hörte mich spät die Treppe hinaufgehen; ihr waren diese Gänge suspekt. Sie vermutete, daß ich da wenig Gutes lernte; außerdem erschien ihr die Art, mit der bei uns im Hause das Schachspiel zelebriert wurde, immer bedenklicher. Es gab eine Spanne, in der Morphy fast mit derselben Begeisterung wie Napoleon genannt wurde, und das wollte viel sagen. Wir begannen, uns mit Eröffnungen, Problemen, Endspielen lieber zu beschäftigen als mit Dingen, die die Mutter für wichtiger hielt, und auch eine gewisse Überheblichkeit zu entwickeln – »Der weiß nicht einmal, wie man en passant schlägt«, oder »kann nicht mit Pferd und Läufer matt setzen«. Oft mußten wir als Partner einspringen. Der Vater gab uns erst einen Turm vor, dann einen leichten Offizier und den Anzug, aber es kam immer häufiger dazu, daß er sagte: »Donnerwetter, da hab ich nicht aufgepaßt« oder »Den will ich nochmal zurücknehmen«.
    Ich spielte lieber mit dem Bruder oder mit den Gästen, denn »den Vater schlagen« hat selbst im Spiel keinen guten Klang. Leonhard spielte »blind« gegen den Bruder, die Schwester und mich gleichzeitig drei Partien und wußte es manchmal so einzurichten, daß er uns gewinnen ließ.
    Das Schachspiel hat den Vorzug, daß geistige Macht so unwiderleglich bezeugt wird wie auf keinem anderen Feld, und zwar durch eine Reihe von Vorweisungen, die nur durch andere Vorweisungen bestritten werden können – so hält es die Mitte zwischen dem Disput und der strategischen Aktion. Vom Disput unterscheidet es sich dadurch, daß jedem Zug eine unbezweifelbare Realität innewohnt. Es gibt, auch wenn sie nicht gefunden wird, die beste Erwiderung, die, wie ein Richtspruch, nicht der Zustimmung des Gegners bedarf. Diese Realität ist andererseits den materiellen Schwierigkeiten und Zufällen entzogen, mit denen der Stratege zu rechnen hat. Man möchte meinen, daß die Ersinnung eines solchen Spieles das menschliche Vermögen überschreite und daß es Zeiten entstamme, in denen Götter mit uns Umgang hielten und bei uns einkehrten. Irgendwo im Universum könnte um Reiche und Länder oder um Sterne gespielt werden, die Figuren könnten Heere bedeuten – doch bliebe nur das Bedeutende, der Schicksalszug in seinem schwerelosen, unerschütterlichen Wandel, gleichviel ob es um Nüsse oder Königreiche geht. Das Spiel gibt eine Ahnung von dem, was an ganz anderen Orten, was unter Geistern, ja was in fremden Welten möglich ist.
    So war die Leidenschaft verständlich, mit der es den Vater ergriff. Noch viele Jahre später, als ich selbst sein Alter erreicht

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