Ein Akt der Gewalt
ihn ein einzelner Scheinwerfer des grünen Pick-ups. Aber dann ist alles wieder richtig herum, er kann die dunklen Fenster eines Gebäudes erkennen und das Abbild seines herumwirbelnden Wagens. Und Asphalt. So deutlich sieht er ihn, dass er jeden kleinen Stein ausmachen kann, der darin eingebettet ist, ebenso die schwarzen Schmierflecken, die von festgewalztem Kaugummi stammen, und auch die Stellen, wo ausgelaufenes Öl ihn verunreinigt hat. Aber schon ist alles wieder aus dem Blick verschwunden, und die Welt steht abermals Kopf. Der Wagen überschlägt sich dreimal, bevor er schließlich am Straßenrand zum Stillstand kommt, wie ein Käfer auf dem Rücken, leicht hin und her schaukelnd. Er hört das Sirren der Räder, die hilflos ins Leere drehen. Er hört das Klirren von Glas. Durch die zerborstene Windschutzscheibe nimmt er den grünen Pick-up wahr, mit dem er zusammengestoßen ist. Er steht bewegungslos mitten auf der Straße, schieläugig, und der eine heil gebliebene Scheinwerfer beleuchtet die Spur der Zerstörung, die Nathan hinterlassen hat:
Glassplitter, Metalltrümmer. Sein Reserverad rollt in immer engeren Zirkeln über den grauen Asphalt, bevor es auf die Seite fällt und schließlich still liegt.
»Hilfe«, will Nathan sagen, aber es wird nur ein Krächzen. »Hilfe«, wiederholt er, und diesmal bringt er es heraus.
Aber die Person im Pick-up hilft nicht. Der Wagen setzt zurück, schlägt seine ursprüngliche Fahrtrichtung ein und fährt einfach weg, jagt mit quietschenden Reifen davon.
Davon.
Fort.
Nathan sieht einen Moment lang nur zu der Stelle, wo der Pick-up eigentlich stehen sollte. Von irgendwo rinnt ihm Blut in die Augen, und er versucht die Tür zu öffnen, doch sie gibt keinen Zentimeter nach. Aber das ist auch gar nicht nötig. Die Windschutzscheibe fehlt. Dort müsste er sich hindurchzwängen.
Überall ist Blut, und er nimmt an, dass es seins ist, denn sonst ist doch niemand da, von dem es stammen könnte. Aber er spürt keine Schmerzen und kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, woher es kommen sollte. Es scheint mehr Blut zu sein, als eine einzige Person in den Adern haben kann.
Schließlich gelingt es ihm, seine Glieder zu ordnen und seinen Körper einigermaßen unter Kontrolle zu bekommen. Er kriecht durch die zerborstene Windschutzscheibe aus dem Wagen. Dabei graben sich ihm Glassplitter in die Handflächen und durch den Stoff der Hose in die Knie.
Als er aus dem Auto heraus ist, rappelt sich Nathan auf.
Im selben Moment strömt ihm Blut aus einer tiefen Stirnwunde übers Gesicht. Er betastet sich, um herauszufinden, woher genau das Blut kommt, und seine Finger berühren etwas, das ein Glassplitter sein muss, der in seinem
Kopf steckt. Er überlegt kurz, ob er ihn herausziehen soll, entscheidet sich aber dagegen. Wenn es so schlimm blutet, obwohl der Korken noch in der Weinflasche steckt, dürfte es wohl ein schlimmer Fehler sein, ihn zu entfernen.
Der Lieferwagen einer Bäckerei rollt vorüber, und Nathan bemerkt, dass der Fahrer den Kopf dreht und ihn ansieht. Er will die Arme heben und mit einem Winken um Hilfe bitten, aber da ist der Wagen auch schon vorbei, links abgebogen und in Richtung Queens Boulevard und jenseits davon verschwunden. Nathan kann das leise frühmorgendliche Rauschen des Verkehrs auf der vielbefahrenen Straße hören, die drei Blocks entfernt ist. Aber drei Blocks schafft er niemals.
Er lässt den Blick über die dunklen Gebäude schweifen, soweit er erkennen kann alles Geschäftshäuser, aber natürlich schon seit Stunden geschlossen. Er könnte an jede Tür in der Straße klopfen, und niemand würde ihm antworten. Aber er hat eh nicht die Kraft, an alle Türen zu klopfen.
Er torkelt blutend einem Schaufenster entgegen, in dem Fahrräder ausgestellt sind. Auf dem Weg schaut er sich um nach einem Gegenstand, mit dem er die Scheibe zerschmettern könnte. Ein Stein würde reichen, aber er sieht keinen. Dann steht er vor dem Fenster und presst die Handflächen dagegen, verschmiert Blut auf der kalten, glatten Oberfläche. Sein Spiegelbild fixiert ihn. Eine blutige Glasscherbe von einigen Zentimetern Länge ragt wie ein Regalbrett aus seiner Stirn. Er fragt sich, ob sie wohl in seinem Gehirn steckt, und schon peinigen ihn pochende Kopfschmerzen. Waren sie bereits die ganze Zeit da? Er glaubt schon. Er glaubt, dass wahrscheinlich alle seine Körperteile schmerzen, aber der Verstand mit dieser Allgegenwart nicht umgehen kann und sich daher Brennpunkte
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