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Ein Akt der Gewalt

Ein Akt der Gewalt

Titel: Ein Akt der Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ryan David Jahn
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Baby am Straßenrand liegen, und ich kann vielleicht sein Leben retten. Es mag noch so unwahrscheinlich sein, aber wenn ich nicht hinfahre, um es herauszufinden, und das Baby lebt tatsächlich noch, muss aber sterben, nur weil ich Angst hatte, mir Ärger einzuhandeln, findest du nicht, dass mir dann Blut an den Händen klebt?«
    »Ich weiß nicht, Frank.«
    Frank nickt.
    »Ich aber«, bekräftigt er. »Ich bin bald zurück. Wo, sagst du, war es? In einer von den Zwanzigern?«
    Erin nickt.
    »Okay«, sagt Frank.
    Dann tritt er zur Vordertür hinaus und schließt sie hinter sich.

9
    Hinter dem Lenkrad seines hellblauen 1963er-Fiat-600 sitzt Nathan Vacanti, verdammt nahe an fünfundsechzig, aber für sein Alter noch recht ansehnlich, wenn er das von sich sagen darf, und das darf er, denn er versagt sich nichts – fast nichts.
    Es ist nach vier Uhr morgens, und Nathan ist betrunken.
    Dass Lehrer so viel trinken, ist immer wieder erstaunlich. Jedes Mal wenn Nathan eine Party besucht, auf der viele Lehrer sind, egal von welcher Schulart oder Fachrichtung (wenn auch Grundschullehrer Weißwein zu bevorzugen scheinen, Geschichtslehrer lieber Whiskey trinken und Englischlehrer sich meist für Merlot oder Cabernet entscheiden), ist er verblüfft über die schiere Menge Alkohol, die konsumiert wird.
    Die roten Rücklichter eines Wagens, der ungefähr eine Viertelmeile vor ihm fährt, sind das einzige Anzeichen von Leben weit und breit. Die Gebäude beiderseits der Straße sind dunkel. Genauso gut könnte er durch die Ruinenlandschaft nach der Apokalypse fahren.
    Bei dem Gedanken an die Apokalypse muss er grinsen – sie wird kommen, wenn die Russen es so wollen – und tritt mit seinem Collegeschuh kräftiger aufs Gas.
    Die roten Rücklichter kommen näher.
    Er stellt das Radio lauter. Sie spielen »Not Fade Away« von Buddy Holly und den Crickets, aufgenommen nur zwei
Jahre vor Mr. Hollys allzu frühem Tod, wie Dean »Dino« Anthony sagt, der DJ der Nachtsendung.
    Jetzt sind die Rücklichter nur noch dreißig Meter vor ihm. Zwanzig. Dann zehn. Er überholt einen Studebaker, wirft einen Blick nach rechts zum Seitenfenster hinaus. Er sieht eine hübsche brünette Frau, ein winziges kleines Ding, vielleicht so groß wie eine durchschnittliche Zwölfjährige. Aber schon ist sie für ihn nur noch Erinnerung, weil er sie in einer Staubwolke hinter sich gelassen hat.
    Man würde es nie vermuten, wenn man ihn jetzt so sähe, sternhagelvoll und dringend einer Rasur bedürftig, rot geäderte Augen, die Lippen feucht und lila, aber Nathan oder Mr. Vacanti, wie man ihn anzusprechen pflegt, unterrichtet siebte Klassen in Englisch, und das seit zweiunddreißig Jahren. Während dieser Zeit hat er ein paar Fehler begangen, aber er nimmt doch an, dass er mehr Gutes bewirkt als Schaden angerichtet hat. Das hofft er zumindest. Und das sagt er sich immer wieder.
    Vor ihm liegt eine Kreuzung. Eine Ampel, die an einem Mast mitten über der Straße hängt, schwingt in der nächtlichen Brise sanft hin und her. Ein Vogel sitzt vor dem grünen Licht auf einem schmalen Vorsprung, nicht mehr als ein Schattenriss. Dann ist da kein grünes Licht mehr. Stattdessen nun ein gelbes. Nathan drückt das Gaspedal unter seinem Collegeschuh voll durch. Der Wagen beschleunigt.
    Ja, den meisten seiner Schüler ist er ein anständiger Lehrer gewesen. Ein paar Fehler werden doch nicht all das Gute schmälern, das er bewirkt hat, oder?
    Die Ampel wird rot, aber Nathan denkt gar nicht daran, anzuhalten. Er rast auf die Kreuzung, und beinahe schafft er es auch, sie zu überqueren, aber ein großer grüner Pick-up kommt ihm von rechts in die Quere. Dessen Scheinwerfer erleuchten das Innere von Nathans Wagen im Augenblick
vor dem Zusammenstoß wie die Lichtstrahlen eines UFOs in einem B-Movie das Gefährt von Erdlingen, kurz bevor man sie entführt.
    »Ach, du Scheiße.«
    Dann erfüllt ein Krach, als bräche die Welt auseinander, seinen Kopf, und er dreht sich im Kreis. Alles ist nur noch ein verwischtes Durcheinander aus Irrwitz und Lichtern und Schmerz, der durch seinen Körper tobt, als dieser im Wageninnern umhergeschleudert wird. Der Fiat kreiselt im Uhrzeigersinn, und Nathan kommt auf den idiotischen Gedanken, er müsse nur das Lenkrad in die Gegenrichtung drehen, um wieder geradeaus zu fahren, aber stattdessen bewirken die Fliehkraft und das Einschlagen der Räder, dass sich der Wagen überschlägt. Plötzlich steht die Welt auf dem Kopf. Für einen Moment blendet

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