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Ein Akt der Gewalt

Ein Akt der Gewalt

Titel: Ein Akt der Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ryan David Jahn
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hat ihn doch noch nie zuvor gesehen und ihm auch nichts getan – also warum hat er sie niedergestochen?
    Sie erreicht die Bank, stützt die Arme auf die Sitzfläche und stemmt sich in die Höhe. Die Farbe ist vom Wetter weggewaschen und vom Stoff vieler Jeans abgeschabt, und sie spürt die Maserung des grauen Holzes an der Unterseite ihrer Arme. Sie hört sich aufstöhnen, als sie hochkommt und sich aufrichtet, und sie spürt, dass noch mehr warmes, nach Kupfer riechendes Blut über ihren Rücken rinnt, sie spürt den stechenden Schmerz unter ihrer Achsel, und das Stöhnen wird zu einem Schrei, aber sie hört nicht auf, sich hochzustemmen. Sie lässt nicht locker, bis sie auf den Füßen steht. Es ist ein unsicheres Gefühl, aber sie steht, tatsächlich. Sie schwankt, das merkt sie, nach links, nach rechts. Verschwommene schwarze Punkte tanzen vor ihren Augen, bewegen sich hierhin und dorthin, wie Insekten, wie Staubkörnchen in einem Lichtstrahl. Ihr ist schwindlig, aber sie steht – sie steht.

    Sie spürt, dass jetzt etwas Warmes auch noch vorn an ihrem Körper herabrinnt, und sie erinnert sich an den zweiten Messerangriff. Als sie an sich hinuntersieht, bemerkt sie vorn in ihrem Kleid vier weitere Löcher, in ihrem hellblauen neuen Kleid, das sie erst vor einer Woche bei Woolworth gekauft hat, als Belohnung dafür, dass sie im letzten Monat so hart gearbeitet hat. Sie hat dafür im Laufe des Abends Komplimente eingeheimst und war froh, es sich geleistet zu haben.
    Sie sieht sich um. Die meisten Gesichter, die vorher zu ihr heruntergeblickt haben, sind verschwunden. In den meisten Wohnzimmern ist das Licht gelöscht worden. Aber einige sind noch erleuchtet, und in anderen kann man, obwohl das Licht nicht mehr brennt, Menschen sehen, die am Fenster stehen und sie beobachten. Vielleicht haben sie das Licht ausgemacht, um so einen besseren Blick zu haben, vielleicht auch nicht. Jedenfalls sind da immer noch einige Gesichter mit weißen Augen, die zu ihr herunterblicken.
    »Helft … mir«, sagt sie. »Bitte.«
    Es hatte ein Ruf werden sollen, aber es ist kaum ein Flüstern geworden. Eine schwache Brise. Ein Rascheln von Laub. Für mehr als das hat sie fast keine Kraft – aber sie versucht es.
    »Jemand«, sagt sie mit brechender Stimme, »hilf mir! Bitte!«
    Sie hört die Verzweiflung in der eigenen Stimme.
    Die Menschen, die in ihren Wohnzimmern stehen und ihr zusehen, rühren sich nicht.
    Vielleicht ist es nur ein Alptraum. Sie hat das Gefühl, dass es gar nichts anderes sein kann. Dass es ein Alptraum sein muss. Als Teenager lag Kat oft im Bett und fragte sich, ob ihr Leben wohl nur ein Traum war. Sie lag da und fürchtete sich einzuschlafen, weil sie dachte, dass sie beim Erwachen
vielleicht in ihrem wahren Leben landete und in diesem wahren Leben bereits eine alte Frau war – oder etwas in der Art. Also lag sie im Bett, stellte sich vor, dies Leben sei ein Traum, aber ein guter Traum, aus dem sie nicht erwachen wollte, zum Teil ganz einfach deswegen nicht, weil sie nicht wusste, wo hinein sie erwachen würde – was war denn Realität? Jetzt aber wünscht sie sich, dass dies alles nur ein Traum sei. Sie hofft, dass es ein Traum ist. Egal, in welcher Situation sie erwacht – es kann nur besser sein als das hier. Sie schließt die Augen und will sich zwingen, aufzuwachen, aber als sie die Augen wieder öffnet, ist sie noch immer am selben Ort, umgeben von Beton und Glas, auf einem Hof, der menschenleer ist bis auf sie.
    Warum hilft ihr denn niemand? Wenn das hier kein Traum ist, warum hilft ihr niemand?
    Weil es ein Alptraum ist, sagt eine Stimme.
    Tränen strömen über ihr blasses Gesicht.
    Sie kann sie nicht fühlen, aber sie weiß, dass sie da sind.
    Einen Moment lang gestattet sie sich, einfach loszulassen. Zu weinen. Sie bebt unter Weinkrämpfen, und die Krämpfe schicken grellen Schmerz durch den gesamten Körper, und noch mehr Blut sickert aus ihren Wunden. Aber trotzdem gestattet sie sich das Weinen, denn sie weiß ohnehin, dass es kommen wird, ob sie will oder nicht.
    Dann unterbindet sie es wieder. Hört ganz einfach zu weinen auf. Sie darf nicht zulassen, dass sie hier draußen verblutet. Sie darf es nicht zulassen. Sie muss etwas tun. Sie muss nach drinnen, das muss sie schaffen, und die Tränen helfen da nicht.
    Sie sieht in Richtung ihrer Wohnung, in die Richtung, aus der sie hergekrochen ist. Ihr Blick folgt der Blutspur, die um die Ecke führt. So viel Blut. Die Hofbeleuchtung lässt es braun

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