Ein Akt der Gewalt
erscheinen statt rot.
Wo ist ihre Tasche?
Auf der vorderen Veranda. Sie hat sie auf der vorderen Veranda fallen lassen.
Wo sind ihre Schlüssel? Sie schließt die Augen und versucht sich zu entsinnen.
Sie stecken im Türschloss, aber sie braucht sie nicht. Die Tür ist offen. Sie erinnert sich, die Tür geöffnet zu haben, also muss sie ja offen sein.
Manchmal, wenn es draußen heiß ist und sie einen Luftzug durch die Wohnung leiten möchte, lässt sie die Tür offen, damit der Wind durch sie hindurch – und zum Fenster wieder hinauswehen kann. Aus ebendiesem Grund hat sie darauf bestanden, eine der acht Gartenwohnungen im Komplex zu bekommen. Sie muss die Tür aber arretieren, denn manchmal bläst der Wind sie wieder zu. Doch das ist diesmal nicht geschehen. Sie müsste das Zuschlagen gehört haben, wenn es so gewesen wäre. Das bedeutet: Die Tür ist offen.
Jetzt muss sie nur noch hinkommen.
Eine lösbare Aufgabe.
Babyleicht.
Sie kann es förmlich vor sich sehen. Sie geht einfach zur Tür, Schritt für Schritt. Ihr ist schwindlig, und es ist nicht leicht, auf den Beinen zu bleiben, aber sie streckt die Arme zur Seite, weg vom Körper, um das Gleichgewicht zu halten – so wie sie es als kleines Mädchen gemacht hat, wenn sie versuchte, auf etwas so Schmalem zu balancieren wie dem niedrigen Mauerstück, das die Büsche vor ihrer Grundschule umgab. Sie würde sich einfach vorstellen, eine weltberühmte Seiltänzerin im Zirkus zu sein, würde die Augen schließen und die Arme zur Seite strecken, um das Gleichgewicht zu halten – und sie geht, Schritt für Schritt, und dann sieht sie sie, ihre Vordertür: offen, nicht geschlossen.
Denn sie hätte es ja auch gehört, wenn sie zugeschlagen wäre, und sie braucht nur ihre Arme nach vorn zu strecken und die Tür ganz aufzustoßen. Und das tut sie, und dann ist sie drinnen, und da steht ihre Couch und ihr Lieblingssessel, und die Sofakissen sind da, die sie vor zwei Monaten gekauft hat, weil sie zu den Vorhängen passen, und die Familienfotos, und auch das Telefon. Da ist ihr Telefon, und sie geht direkt zum Beistelltisch in ihrem Wohnzimmer und nimmt es zur Hand und hebt es ans Ohr und sagt: Hallo, Vermittlung …
»Hallo, Vermittlung«, sagt sie. Sie steht immer noch auf dem Hof, schwankend in der Nachtluft. »Hallo, ich bin … niedergestochen worden. Ich brauche einen Krankenwagen.«
Ja, denkt sie, das ist es, was sie tun wird.
Eine lösbare Aufgabe.
Wie einen Drink auszuschenken. Wie einen Reifen zu wechseln.
Babyleicht.
Sie konzentriert sich nur noch darauf, was sie tut, und macht den ersten Schritt auf ihre Wohnung zu. Ihr linkes Knie will einknicken, als sie ihr rechtes Bein vorwärtsbewegt, aber es gelingt ihr, es durchgedrückt zu lassen – unter Zittern, ja, aber es hält -, und dann setzt sie ihren rechten Fuß auf. Das ist ein Schritt. Sie ist ihrer Rettung einen Schritt näher gekommen, einen Schritt näher, sich selbst zu retten. Sie drückt ihr rechtes Knie durch und zieht ihr linkes Bein nach, bis es auf derselben Höhe ist wie das rechte. Schwer atmend bleibt sie stehen. Okay, denkt sie. Also nochmal. Sie schiebt ihr linkes Bein nach vorn, vorsichtig, ganz vorsichtig … aber dann, plötzlich und ohne jede Vorwarnung gibt ihr rechtes Bein nach, gibt einfach auf, das war’s, ich kann nicht mehr. Und das war’s dann,
unter ihr ist nur noch der Boden, und sie zerbricht in tausend Stücke, die auf den Beton bröckeln.
»Scheiße«, sagt sie im Fallen. Es ist das erste Mal seit sehr langer Zeit, dass sie laut geflucht hat, aber es ist ihr egal. Scheißegal.
Sie schlägt mit der flachen Hand auf den Beton, und als diesmal die Tränen kommen, versucht sie erst gar nicht, sie zurückzuhalten.
20
Alan lenkt seinen Streifenwagen vor einem kleinen einstöckigen Haus an den Straßenrand – nahe der Einmündung einer Einbahnstraße, wo die rotbraunen Reihenhäuser von Einfamilienhäusern mit dunklem Fachwerk im Tudor-Stil abgelöst werden – und stellt den Motor aus. Die Außenbeleuchtung des Hauses ist angeschaltet, aber die Vorhänge sind zugezogen. Sie sind rot, und daher ist das Licht, das durch sie hindurch nach draußen dringt und auf den Rasen fällt, ebenfalls rot. Alan nimmt an, die Farbe der Vorhänge bedeutet, dass der Typ entweder verheiratet ist oder schwul, und er entscheidet sich für verheiratet – eine Schwuchtel hätte niemals den Mumm, so was durchzuziehen.
Er stößt die Wagentür auf, steigt aus und geht herum zum
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