Ein Akt der Gewalt
vorhält, krank im Kopf zu sein, dass er sich solche Dinge ausdenken könne. Er denkt an einen Jungen, der in seinem Bett liegt und sich davor fürchtet, in die Schule zu gehen. Einen Jungen, der im Badezimmer steht, am Waschbecken, und sich Seife ins linke Auge reibt, damit er eine Bindehautentzündung bekommt oder zumindest etwas, das so aussieht, denn Bindehautentzündung ist ansteckend,
und sie zwingen einen nicht, in die Schule zu gehen, wenn man eine hat. Und wenn er damit fertig ist, sieht sein Auge rot aus, so rot, dass man denken könnte, es wird nie wieder weiß werden. Drei Tage lang darf er bei Mom zu Hause bleiben und Radio hören und geröstete Mortadellastullen ohne Brotrinde essen. Er denkt an einen Jungen, der mit einem Monat Stubenarrest bestraft wird, weil er dabei erwischt worden ist, wie er sich Seife ins Auge reibt und sich zum vierten Mal eine Bindehautentzündung holt. Einen Jungen, der einen Koffer packt und von zu Hause fortläuft, aber doch nicht weiter kommt als bis zum Dachboden über der Garage, wo er vier Nächte lang schläft und nur ins Haus geht, wenn seine Eltern nicht da sind, ins Haus geht, um sich Lebensmittelkonserven zu holen und die Toilette zu benutzen. Einen Jungen, der in jenen vier Tagen eine stattliche Zahl mit Urin gefüllter Einmachgläser auf dem Dachboden der Garage ansammelt. Einen Jungen, der nichts tut, als im düsteren Lichtschein, der durchs einzige Fenster des Dachbodens fällt, Die Prinzessin vom Mars zu lesen, während seine Mutter sich die Augen ausweint, weil ihr Sohn verschwunden ist. Einen Jungen, der sich Lebensmittel aus ihrem General-Electric-Monitor-Top-Kühlschrank stiehlt und dabei von seinem Vater erwischt wird, der nur so getan hat, als würde er fortgehen, um sich dann draußen vor der Küchentür zu verstecken und seinen Sohn durchs Fenster zu beobachten. Einen Jungen mit Striemen von einem Streichriemen auf der Haut, der noch einige Striemen mehr verpasst bekommt, als sein Vater die Gläser mit Pisse auf dem Dachboden findet und ihm sagt, dass er gestört sei, krank im Kopf, weil er mit seinen Lügen die Lehrer bezichtige und seinen Urin in Einmachgläsern aufbewahre. An all das denkt er, als sie dem Krankenhaus entgegenfahren und das Monstrum, dem er seit sechsundzwanzig
Jahren den Tod an den Hals gewünscht hat, kaum mehr als eine Handbreit entfernt von ihm auf einer Trage liegt, festgeschnallt, zu keiner Bewegung fähig, verletzt von einer schartigen Glasscherbe, die aus seiner Stirn ragt wie ein Regalbrett.
Der Krankenwagen hält vor der Notaufnahme.
Die Sirene verstummt, die Warnlichter erlöschen.
Er sieht Mr. Vacanti an, und der Mann erwidert seinen Blick. Aus irgendwie sanften Augen. David ist überrascht, dass der Mann sanfte Augen hat. Es verblüfft ihn, mit seinen siebenunddreißig Jahren zu entdecken, dass Ungeheuer sanfte Augen haben können. Um eine Welt, in der Ungeheuer sanfte Augen haben dürfen, ist es grausam bestellt.
»Du machst das Richtige, Davey«, sagt Mr. Vacanti. »Was ich getan habe … ist unverzeihlich. Das weiß ich. Aber du machst das Richtige.«
David beißt die Zähne zusammen und blickt zur Seite. Er verschluckt, was er sagen will. Er wendet sich den verschlossenen Hecktüren des Krankenwagens zu, löst ihre Verriegelung und drückt sie auf.
Überrascht stellt er fest, dass es draußen noch immer dunkel ist. Es war ihm vorgekommen, als habe er Stunden – Tage, Wochen – zusammen mit dem Monstrum und seinen sanften Augen im Krankenwagen gesessen.
Mit Johns Hilfe zieht er Mr. Vacanti aus dem Fond des Wagens, und kurz darauf schieben er und John ihn ins Gebäude.
32
Diane sitzt auf dem Bett neben einem Koffer, dessen Lederkiefer aufgeklappt sind, das Maul angefüllt mit ihren Kleidern, ihrem Schmuck und ihren Erinnerungen.
Sie hält ein Foto in beiden Händen, ein gerahmtes Hochzeitsfoto, das neunzehn Jahre alt ist. Auf dem Foto sind sie und Larry jung und schlank. Larry hat noch all sein Haupthaar. Und ihre Haut ist noch an keiner Stelle schlaff oder faltig. Sie beide haben glänzende Augen, Augen, die in der jugendlichen Überzeugung leuchten, dass die Liebe wirklich alles bezwingen kann. Als sie jetzt das Foto betrachtet, ist die Erkenntnis, dass es tatsächlich so gekommen ist, für Diane umso schlimmer. Auf dem Foto leuchten ihre Augen in dem Glauben, dass sie in Sicherheit sind. Sie sind zusammen und verheiratet, und die Welt wird ihnen nichts anhaben können. Sie wird vielleicht anderen Menschen
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