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Ein Akt der Gewalt

Ein Akt der Gewalt

Titel: Ein Akt der Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ryan David Jahn
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konnten, an die Fehlgeburten und wie es ihr deswegen das Herz gebrochen hat, die Vorwürfe von Larry, als sei es ihre Absicht gewesen. Sie denkt daran, dass sie im selben Raum sitzen können, aber doch Meilen voneinander entfernt sind. Sie denkt an das Schweigen zwischen ihnen.
    »Diane?«
    Diane schüttelt den Kopf.
    »Tut mir leid«, sagt sie. »Ich glaube einfach nicht, dass ich es kann.«

33
    Harriette ist müde – müder als je zuvor.
    »Patrick.«
    Sie sagt es nicht laut, aber Patrick ist ein guter Junge und aufmerksam. Kurz darauf wird die Tür aufgestoßen, und er steht da und betrachtet sie mit besorgtem Blick.
    »Was ist denn, Momma?«
    »Wieso«, überlegt Harriette laut, »darfst du mich immer noch Momma nennen, aber ich darf nicht mehr Pat zu dir sagen?«
    Patrick schmunzelt.
    »Weil es etwas anderes ist«, sagt er. »Bist du okay?«
    Es war hart – es war ein hartes Leben -, ihn auf sich allein gestellt während der letzten acht Jahre großzuziehen. Aber wenn sie sich ihn jetzt anschaut, findet sie, dass sie es gut gemacht hat.
    »Natürlich bin ich nicht okay, Junge«, antwortet sie. »Ich sterbe.«
    Patrick sagt nichts.
    »Ich sterbe«, wiederholt Harriette.
    »Kann ich etwas tun?«
    Sie streckt ihm eine orangefarbene Pillenflasche entgegen.
    »Ich hab die hier nicht aufgekriegt.«
    »Es ist noch gar nicht Zeit für deine Pillen.«

    Harriette nickt und sagt: »Ich glaube, das ist es doch, Patrick.«
    Sie sieht ihren Sohn blass werden, als ihm dämmert, was sie da sagt. Sie sieht zu, wie er den Kopf schüttelt.
    »Dein Arm«, sagt er und deutet auf den Apparat in der Ecke, »er hat gar nicht … du hattest gar keine Schmerzen, oder?«
    »Ich bin am Ende.«
    »Bist du nicht.«
    »Warum nicht? Ich bin müde, Patrick. Ich bin müde und bettlägerig, und wenn ich die Sonne überhaupt noch zu Gesicht bekomme, dann nur durch eine schmutzige Fensterscheibe.«
    Sie schüttelt den Kopf.
    Sie denkt an Schlaf, beglückende Dunkelheit, die selige Dunkelheit, die sie kannte, bevor sie geboren wurde. Sie hatte keine Schmerzen verspürt. Sie hatte nichts gespürt. Einmal hat jemand das Leben bezeichnet als ein kurzes Lichtfenster zwischen zwei immensen Abschnitten dunkler Leere. Sie weiß nicht, ob das stimmt – doch sie weiß, dass ihr Lebensfunke flackert. Sie möchte nie wieder erwachen, nie und nirgends.
    »Ich bin müde«, sagt sie nochmal.
    Patrick tritt zu ihr ans Bett und greift nach den Pillen. Sie zieht die Hand weg, aber er packt das schmale Gelenk und entwindet ihr die Flasche.
    »Wenn du müde bist«, sagt er, »leg dich hin und schlaf.«
    »Ich bin viel müder als das«, gibt Harriette zurück. »Du bist ein junger Mann. Du weißt noch nicht, was die Welt einem Menschen antut.«
    »Ich kann nicht zulassen, dass du …« Er schließt die Augen, nur ganz kurz, aber in diesem Moment findet Harriette, dass ihr Sohn sehr gut aussieht, wie sein Vater, als sie ihn
kennenlernte. Er ähnelt seinem Vater sehr bis auf eines – Patrick ist nicht so jähzornig. Henry war so voller Wut. Sie fürchtet, das Leben könnte auch in Patrick diese Wut wecken – sie nimmt an, es wird geschehen -, aber bis jetzt ist es nicht dazu gekommen. Er öffnet die Augen. »Ich kann dich nicht tun lassen, was du tun willst«, sagt er.
    »Warum nicht?«
    »Ich kann hierbleiben. Ich melde mich nicht zur Musterung.«
    »Was nützt es mir, wenn man dich ins Gefängnis steckt?«
    »Also melde ich mich doch«, entscheidet er, »aber ich sage ihnen, dass du krank bist, dass du krank bist und darauf angewiesen, dass ich bei dir bleibe, um dich zu pflegen.«
    »Ich möchte, dass du aufhörst, mich als Ausrede zu benutzen, Patrick.«
    »Ich versteh nicht, was du meinst.«
    »Das tust du. Du bist ein kluger Junge.«
    »Du hast mich gebeten, für dich zu sorgen.«
    »Vielleicht war das ein Fehler«, sagt Harriette und denkt, dieses Vielleicht sei ein Eigenlob, das sie nicht verdiente. »Du bist neunzehn Jahre alt, und das Einzige, was du vom Leben mitbekommst, siehst du durch dein verdammtes Fernrohr. Ich weiß, du willst eigentlich mehr, Patrick. Ich weiß es genau. Aber ich weiß auch, dass du dich fürchtest … vor irgendetwas. Ich weiß nicht, was es ist, vielleicht vorm Leben selbst. Aber du fürchtest dich, und du benutzt mich als Ausrede. Schluss damit. Hör damit auf, mich als Ausrede zu benutzen.«
    Patrick sieht in die Ecke. Seine glänzenden Augen spiegeln intensive Gefühle wider. Nach einer Weile wendet er den Blick zurück.

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