Ein Akt der Gewalt
werde dich finden.«
Kat beobachtet ihn. Noch hat er nicht zur Veranda herübergesehen. Warum, weiß sie nicht – es ist kaum zu erklären -, aber er hat es nicht getan. Noch nicht. Sie bezweifelt nicht, dass er es tun wird. Aber auch wenn er es nicht tut, wird er aus dem Augenwinkel, selbst wenn er woanders hinsieht, ihre Bewegungen wahrnehmen, und das wird wahrscheinlich eher früher als später geschehen. Sie darf nicht einfach hier stehen bleiben und sich an die Wand ihrer Wohnung lehnen. Sie muss die Wohnungstür öffnen, ohne dass er es merkt. Wenn sie das geschafft hat, kann sie sich drinnen einfach fallen lassen und wird hoffentlich noch die Kraft aufbringen können, den Arm auszustrecken
und den Türriegel vorzuschieben. Dann wird sie in Sicherheit sein.
Aber zuerst muss die Tür geöffnet werden.
Babyleicht, denkt sie. Verschlossen ist sie eh nicht mehr. Sie muss nur noch den Türknauf drehen – ohne dass die Schlüssel klirren – und die Tür aufstoßen. Das ist alles.
Sie streckt eine zitternde, aufgeschürfte und blutende linke Hand aus. In der Hoffnung, nicht zu fallen, hält sie sich mit der rechten an der Wand hinter ihr fest.
Der Mann, der sie angegriffen hat, befindet sich jetzt im Hof und ist nicht mehr zu sehen. Sie kann ihn aber fluchen und umherstampfen hören.
Sie kann es schaffen. Sie muss es nur fertigkriegen, bevor er wieder zur Straße zurückkommt, mehr nicht.
»Wo bist du, Schlampe?«
Sie kann es schaffen.
Ihre Finger berühren das kalte Metall des vom Schlüssel zerkratzten Türknopfs, und sie zuckt unwillkürlich zurück. Wegen des ungewohnten Gefühls.
Ihre Nerven liegen bloß.
Tu’s einfach, sagt sie sich. Bevor er zurückkommt. Bitte, Kat, tu’s einfach.
Sie streckt wieder den Arm aus, umklammert den Türknauf mit einer blutigen Hand.
Sie hört seine Schritte. Er kommt zurück.
Sie sieht zum Hof. Er folgt der blutigen Spur, die sie auf dem Weg hierher hinterlassen hat. Sie muss absurderweise an Hänsel und Gretel denken. Irgendwie arbeitet ihr Verstand nicht mehr richtig. Ihr Verfolger wird den Blick heben und sie schon bald sehen. Es kann jede Sekunde so weit sein.
Sie darf nicht mehr darauf achten, völlig leise zu sein.
Sie dreht den Türknauf, lässt dabei die Schlüssel klirren, die drinstecken, und stemmt sich gegen die Tür.
Als die Tür nach innen schwenkt, fällt Kat nach vorn und landet mit dem Gesicht auf der Veranda. Sie will sich nach drinnen retten, aber sie ist so schwach, dass sie kaum kriechen kann. Doch sie versucht es, und es gelingt ihr, den Oberkörper über die Türschwelle und nach innen zu schieben – ich bin drinnen, denkt sie panisch, ich bin in Sicherheit -, als eine Hand ihr Bein packt und sie nach draußen zerrt. Ins Dunkel des frühen Morgens.
»Nein«, schreit sie, und das Wort zerschneidet ihr die Luftröhre, als stieße sie einen scharfkantigen Stein aus. »Nein.«
Der Mann zieht sie mit einer Hand nach draußen und auf ein Blumenbeet vor dem Gebäude. Die andere Hand sticht mit dem Messer auf sie ein. Sie windet sich, um auszuweichen, und die Klinge sticht in ihre Wade. Dann ein weiterer Messerstich, diesmal in ihre linke Hüfte. Sie spürt die feuchte Erde des Blumenbeets unter sich.
Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, aber es stehen keine Sterne mehr am Himmel.
Graue Wolken drängen sich über ihr, nehmen ihr die Sicht auf alles Jenseitige.
Etwas gleitet in ihren Bauch.
31
David hat kein Wort gesagt. Er hat die ganze Zeit hinten im Krankenwagen gesessen und nachgedacht.
Er denkt an einen Jungen mit dunklem Haar und hellen Augen – einen blassen kleinen Jungen -, einen Jungen, der gern in seiner Badewanne sitzt, selbst wenn er gar kein Bad nimmt, und mit seinen Autos spielt, sich vorstellt, der Rand der Wanne sei eine Straße, Schaltgeräusche imitiert, aber das Auto wird zu schnell, o nein, da stimmt was nicht, es wird die Kontrolle über sich verlieren, und dann verliert es sie tatsächlich und fliegt von der Straße, die auf einem dreißig Meter hohen Kliff verläuft, und prallt tief unten auf den Badezimmervorleger und explodiert, und der Fahrer schreit: »O nein! Mein Haar brennt!« Er denkt an einen Jungen, der sich bemüht, seinem Vater zu erzählen, was ihm in der Schule passiert ist, einen Jungen, dessen Vater ihn dann einen Lügner schimpft, ihn ermahnt, sich keine Lügengeschichten auszudenken, ihn mit einer Woche Stubenarrest bestraft, weil er sich trotzdem eine ausgedacht habe, und ihm außerdem
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