Ein Akt der Gewalt
Kriechspuren markieren den Pfad: Jemand hat auf Händen und Knien zu flüchten versucht.
Der Hof ist eine Leinwand, die den Horror der vergangenen Nacht abbildet wie ein Gemälde. Thomas hat in seinem Leben noch nie so viel Blut gesehen.
40
Christopher hat Kat nicht entdecken können, weil sie schon um die Ecke gekrochen ist, auf die Gebäudeseite an der Austin Street, aber sie ist immer noch da draußen, blutend, auf Händen und Knien, und versucht, in ihre Wohnung zu gelangen. Das Messer steckt noch in ihrer Brust, pulsiert, als besäße es seinen eigenen Herzschlag, pocht wie ein Daumen, nachdem ein Hammer ihn mit Wucht getroffen hat. Und sie bemüht sich, beim Kriechen nicht in ihrem eigenen Blut auszurutschen, denn sonst würde sie auf den Griff des Messers fallen und es noch tiefer in ihre Brust stoßen.
Sie hat das Gefühl, zu ertrinken.
Sie spürt ein Kratzen im Hals, das sie husten lässt – würgen, nach Luft ringen -, und ein Strom Flüssigkeit rinnt ihr aus dem Mund, ein langer zäher Faden geronnenen Bluts.
Sie blutet innerlich aus. Sie meint in ihrem Blut zu ertrinken.
Ihr ist am ganzen Körper kalt.
Wie viele Stunden und Stunden und Stunden müssen vergangen sein? Sie hat keine Vorstellung. Es kommt ihr vor, als seien es Tage – es kommt ihr vor, als habe sie ein halbes Dutzend Sonnenuntergänge und Sonnenaufgänge verpasst. Sie weiß, dass es nicht stimmt; sie hätte Menschen gesehen, wenn es so gewesen wäre: Menschen, die zur Arbeit gingen oder von der Arbeit heimkamen, Menschen,
die nach ihrer Post schauten, Menschen, die auf der Straße vorbeifuhren, die ihre Autos auf dem Long-Island-Railroad-Parkplatz auf der anderen Straßenseite abstellten – und einer von all diesen Menschen hätte ihr bestimmt geholfen. Es können also keine Tage vergangen sein, auch wenn sie diesen Eindruck hat. Sie stellt sich vor, dass sie regungslos hier liegt, während die Leute um sie herum wie in einer Zeitraffersequenz hin und her flitzen, schneller als menschenmöglich, in Autos einsteigen, aus Autos aussteigen, mit Lebensmitteln beladen nach Hause kommen, den Müll hinaustragen, während die Sonne fast in Sekundenschnelle auf- und wieder untergeht, Wolken sich bilden und im nächsten Moment wieder aufbrechen, Blüten sich öffnen und schließen und verwelken. Sie stellt sich vor, dass sie regungslos bleibt, während die Welt sich um sie dreht. Dann stellt sie sich vor, dass sie nicht mehr da ist.
Sie bewegt eine Hand nach vorn. Die Hand rutscht weg, und sie kann es kaum schaffen, sich mit ihren übrigen drei Gliedmaßen aufrecht zu halten.
Sie versucht es nochmal, und diesmal gelingt es ihr, voranzukommen.
Nur ein bisschen. Nur ein kleines bisschen.
Ich werde nicht sterben, denkt sie.
Sie sieht hinunter auf ihre blutigen Hände, auf den Schmutz, der sich inzwischen unter ihren Nägeln angesammelt hat, auf das Blut, das zwischen die Finger tropft, das vom Griff des Messers in ihrer Brust tropft, und dann hebt sie den Blick: nur noch ein halber oder drei viertel Meter bis zur offenen Tür. Die offene Tür. Zumindest hat sie sie aufbekommen. Ein drei viertel Meter.
Fünfzehn Zentimeter bei jedem Schub, ein drei viertel Meter noch. Zuerst über die Schwelle, dann zum Telefon.
Im Moment nur an die Türschwelle denken. Etwas mehr als fünfzehn Zentimeter bei jedem Schub, noch fünfmal.
Fünf. Sie wird nicht sterben.
Sie bewegt sich ein weiteres Stück vorwärts, auf Händen und Knien. Die Welt wird grau. Schwarze Punkte schwimmen vor ihren Augen – wie Insekten, wie Staubflocken -, und sie müht sich mit aller Kraft, nicht ohnmächtig zu werden.
Sie wird nicht hier draußen sterben. Sie kann es schaffen.
Er wird nicht noch einmal wiederkommen.
Denk nicht ans Telefon.
Erreich einfach nur die Schwelle.
Erreich einfach nur die Schwelle.
Erreich einfach nur die Schwelle.
41
William schenkt zwei Tassen Kaffee ein und stellt dann den elektrischen Sunbeam-Kaffeekocher auf den Küchentresen. Er trägt saubere Jeans und ein sauberes kariertes Arbeitshemd. Nach dem Duschen hat er seine blutigen Kleidungsstücke – Hose und Pullover – in einen Müllbeutel gestopft, ihn zugebunden und ganz unten in der Mülltonne versteckt, nachdem er zuerst Eierschalen und alte Zeitungen hervorgeholt hat, um sie auf dem Kleiderbeutel abzulegen.
Wenn Elaine das nächste Mal wäscht, wird sie entdecken, dass die Kleidungsstücke fehlen. Es könnte sein, dass sie danach fragt, aber bis dahin wird ihm etwas eingefallen
Weitere Kostenlose Bücher