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Ein allzu braves Maedchen

Ein allzu braves Maedchen

Titel: Ein allzu braves Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Sawatzki
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lange ohne Schuhe im Garten, bis meine Mutter abends aufstand, um zur Arbeit zu gehen. Da hab ich mich dann wieder reingetraut, aber die Füße waren blaugefroren.«
    »Sie sagten, Sie werden auch heute noch manchmal zu jemand anderem. Was tun Sie dann als dieser andere?«
    »Es ist wie ein Strudel. Ich höre den hohen Ton und sehe Blitze. Dann bekomme ich keine Luft mehr.«
    »Wann hat das angefangen?«
    »Weiß nicht. Mit zwölf vielleicht.«

DIENSTAG
    2
1
»Was haben Sie gelernt, was interessiert Sie? Womit haben Sie die letzten Jahre Ihr Geld verdient?«
    »Ich hatte alle möglichen Jobs. Zuerst Kellnerin, dann Verkäuferin, und zuletzt bin ich anschaffen gegangen.«
    »Sie haben als Prostituierte gearbeitet?«
    »Vielleicht seit sieben Jahren. Ich habe nur Kunden, die ich akzeptiere, das ist ein ziemliches Privileg in dem Job. Das hab ich mir im Lauf der Zeit erarbeitet. Ich verdiene jetzt genug, um mir keine Sorgen mehr machen zu müssen. Zumindest glaube ich das.«
    »Haben Sie Ihrer Mutter davon erzählt?«
    »Wovon?«
    »Dass Sie als Prostituierte arbeiten?«
    »Meine Mutter ist tot. Aber der hätte ich das sowieso nicht gesagt. Die hat auch nie nachgefragt, womit ich mein Geld verdiene.«
    »Sie hatten kein enges Verhältnis zu Ihrer Mutter?«
    »Früher schon, als ich klein war. Später haben wir uns nur noch um meinen Vater gekümmert.«
    »Wieso haben Sie ihn zu Hause behalten, wenn er so krank war?«
    »Wir hatten kein Geld für eine Pflege. Und weggeben wollte ihn meine Mutter nicht.«
    »Konnten Sie regelmäßig zur Schule gehen?«
    »Ja, ich kam später sogar aufs Gymnasium. Aber als die Krankheit meines Vaters schlimmer wurde, konnte ich mich in der Schule nicht mehr konzentrieren, und als er tot war, bin ich erst mal abgehauen und hab mir meine Freiheit zurückgeholt. Das war dann so mit vierzehn.« Sie blickte Dr. Minkowa in die Augen. »Für mich war das eine Erlösung, der Tod meines Vaters. Ich hätte das nicht mehr lange ausgehalten.«
    »Was ausgehalten?«
    »Die schlaflosen Nächte. Wenn meine Mutter nachts im Krankenhaus war, hab ich auf ihn aufgepasst. Alzheimerkranke schlafen nicht. Und manche sind aggressiv. Mein Vater war aggressiv. Als er endlich tot war und abgeholt wurde, hat meine Mutter furchtbar geweint. Aber warum hat sie geweint? Das Leben mit ihm war eine Qual. Ich nehme ihr das bis heute übel, denn wenn man sich liebt, tut man das doch zu Lebzeiten und nicht erst, wenn einer stirbt. Also zu Lebzeiten haben sie fast immer gestritten, weil er ja alles kaputtgemacht hat. Keine Ahnung, warum sie sich keinen Jüngeren ausgesucht hat. Er war dreißig Jahre älter als sie.
    Die Sargträger haben meinem Vater den Kiefer zusammengebunden, damit der nicht immer wegklappte, das passiert bei Toten, dass der Mund dann so aufsteht.
    Die Augen gingen auch nicht richtig zu. Ich hab ihm dann im Sarg seine Brille auf die Brust gelegt, damit er im Himmel was sehen kann. Ich glaube schon, dass er trotz allem im Himmel gelandet ist. Er war ja am Schluss nicht ganz klar im Kopf. Er wusste nicht, dass er uns das Leben zur Hölle gemacht hat. Die Sargträger klappten also den Deckel drüber und machten alles zu. Dann wollten sie durch die Schlafzimmertür und merkten zu spät, dass der Sarg viel zu breit war. Zum Glück war meine Mutter schon an der Haustür, sonst hätte das alles ewig gedauert. Sie hätte bestimmt nicht erlaubt, dass man den Sarg mit meinem Vater drin seitlich kippt, damit er durch die Tür passt. Die Männer jedenfalls sahen mich kurz an und drehten dann das Teil, im Innern polterte es furchtbar, und die Männer schlüpften schnell mit ihm raus. Ich weiß noch, dass ich nur darüber nachdachte, ob er seine Brille wiederfinden würde, weil die ja jetzt bestimmt von seiner Brust gerutscht war.«
    Die junge Frau schien erleichtert, dass nun alles aus ihr heraussprudelte und ihr jemand zuhörte. Vielleicht begann sie Dr. Minkowa zu vertrauen. »Bei der Beerdigung kamen dann doch noch ein paar Freunde meines Vaters zusammen, obwohl die sich lange nicht mehr hatten blicken lassen. Wozu auch, er hatte sich ja an nichts und niemanden mehr erinnern können. Ich lief neben meiner Mutter hinter dem Mann her, der die Urne trug, und versuchte die ganze Zeit über, ernst und betroffen zu wirken. Dabei fand ich die Szene zum Brüllen komisch. Mein Vater in einer Vase.«
    Sie verstummte und senkte ihren Blick in die unsichtbare Flusslandschaft an der Wand.
    »Ich würde wirklich gern

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