Ein allzu braves Maedchen
irgendwann die Tür öffnen wird.«
»Es ist ein Mann?«
»Ich weiß es nicht. Die Schritte klingen immer sehr schleppend. Wenn sie vor meiner Tür angekommen sind, entfernen sie sich irgendwann wieder. Und dann geht es wieder von vorne los.«
»Haben Sie so was früher mal erlebt? Dass sie auf diese Art verfolgt wurden?«
»Nein.«
»Lassen Sie sich ruhig Zeit. Denken Sie nach.«
»Nein, ich wurde nicht verfolgt. Ich war ja immer zu Hause.«
»Wieso waren Sie immer zu Hause? Haben Sie nie mit anderen gespielt?«
»Ich habe als Kind auf meinen Vater aufpassen müssen. Er war schon ziemlich alt und hatte Alzheimer. Ich konnte ihn keine Minute allein lassen.«
Die Psychiaterin stutzte.
»Wo war denn Ihre Mutter?«
»Sie war Krankenschwester und musste nachts arbeiten.«
Dr. Minkowa blickte sie an, schien zu warten, dass ihre Patientin die Widersprüche zu ihren früheren Aussagen aufklärte.
Nach einer kleinen Pause fuhr die junge Frau fort. Offenbar wollte sie etwas loswerden.
»Manchmal denke ich darüber nach, wie es hätte sein können. Wie meine Kindheit hätte sein können. Das ist dann schön.«
»Aber in Wirklichkeit war sie anders?«
»Wer weiß, was in Wirklichkeit war.«
»Erkannte Ihr Vater Sie denn?«
»Wie meinen Sie das?«
»Wusste Ihr Vater, dass Sie seine Tochter waren?«
»Er hatte mich kennengelernt, als ich schon acht war. Ich weiß es nicht. Ich glaube, da war er schon ein bisschen dement. Später erkannte er mich nicht mehr. Und vielleicht mochte er mich auch nicht besonders, weil ich aufpassen musste, dass er nicht wegläuft.«
»Es ist schade, dass sie so spät zusammenkamen. Das muss schwer gewesen sein.«
»Ich kannte es nicht anders. Die Jahre davor lebte er mit einer anderen Frau zusammen. Die durften wir nicht unglücklich machen, hat meine Mutter gesagt.«
»Wo haben Sie denn die Jahre zuvor verbracht?«
»In einer anderen Stadt, zusammen mit meiner Mutter. Ich kam bei verschiedenen Tagesmüttern unter, weil sie so viel arbeiten musste.« Die junge Frau blickte wieder an die Wand, aber die Stille hielt nicht lange an. Sie sprach weiter. »Als die andere Frau meines Vaters sich dann das Leben genommen hat, sind wir zu ihm gezogen. Da war ich acht.«
»Sie sind in das Haus gezogen, in dem Ihr Vater mit der anderen Frau gewohnt hat?«
»Ja. Es war ein Zweifamilienhaus, mit einem Garten voller Blumen. Im oberen Stockwerk wohnte die Vermieterin und hatte immer ein Auge auf uns. Sie mochte uns nicht besonders, oder zumindest hatte ich das Gefühl, dass sie mich nicht mochte. Wir hatten kein Geld für eine andere Wohnung. Mein Vater arbeitete damals schon nicht mehr, und meine Mutter war Krankenschwester.«
»Es war das Haus, in dem sich die erste Frau das Leben genommen hat?«
»Ja. Im Wohnzimmer.«
Die junge Frau hielt inne, dann fügte sie hinzu: »Die Wohnung war klein. Das Kinderzimmer lag zwischen dem Schlafzimmer meiner Eltern und dem Wohnzimmer, in dem sie sich das Leben genommen hatte. Das Wohnzimmer war durch eine gläserne Schiebetür von meinem Zimmer getrennt. Ich bin da nach Einbruch der Dunkelheit nie freiwillig reingegangen. Der Lichtschalter war am anderen Ende des Raums, und man musste sich im Dunkeln vortasten. Das mochte ich nicht.« Sie stockte. »Die drei Räume gingen auf den Flur hinaus, an dessen einem Ende Küche und Esszimmer lagen und am anderen die Haustür. Bad und Toilette lagen gegenüber den drei Zimmern. Ich sehe das alles noch genau vor mir. Ich weiß auch noch genau, wie die Wohnung roch. Und obwohl ich mich dort nie wirklich geborgen fühlte, hat dieser Geruch etwas Vertrautes, eine Art Sehnsucht für mich.«
»Sie waren oft nachts allein mit Ihrem Vater?«
»Meine Mutter hat immer zwei Wochen gearbeitet, und dann hatte sie zwei Wochen frei. In der Zeit, wo sie arbeiten musste, war ich verantwortlich für meinen Vater.«
»Ich verstehe. Das ist viel Verantwortung für ein kleines Mädchen.«
»Von acht bis zwölf habe ich das gemacht. Dann ist er gestorben.«
Sie machte eine neuerliche Pause und starrte auf ihre nackten Füße.
»Sie sind wieder barfuß?«, frage Dr. Minkowa.
»Ja, die Umgebung hier macht mir Angst. Ich fühle mich irgendwie ausgeliefert. Ich muss immer aufpassen, dass es mich nicht kriegt. Denn wenn es mich packt, bin ich nicht mehr ich selbst. Dann bin ich jemand anderer. Ich musste oft vor meinem Vater in den Garten flüchten, da blieb keine Zeit, Schuhe anzuziehen. Manchmal, im Winter, blieb ich so
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