Ein allzu braves Maedchen
sagen, dass ich um meinen Vater getrauert habe. Aber eigentlich bin ich nur froh, dass er weg ist. Noch heute.« Die junge Frau schwieg. Dann fuhr sie leise fort. »Ich hatte vor einiger Zeit einen Kunden, der hat das auch mit mir gemacht.«
»Was meinen Sie?«
»Sich auf mich draufgesetzt. Den hab ich danach nicht mehr genommen. Ich hab mich zuerst gewehrt und bin dann völlig erstarrt. Ich konnte mich einfach nicht mehr bewegen, hab auch nichts mehr gesagt, sondern nur noch an die Decke geguckt, bis er gegangen ist. Das Geld, das er auf den Nachttisch gelegt hatte, hab ich in den Abfalleimer geschmissen. Das war schon merkwürdig. Ich konnte es einfach nicht nehmen. Obwohl ich es dringend gebraucht hätte.«
MITTWOCH
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Die beiden Pfleger saßen vor dem Fernsehapparat im Schwesternzimmer und erhoben sich widerwillig, als der Schrei ertönte. Sie hatten eine Quizsendung gesehen und waren gespannt auf das bevorstehende Finale. Sie blickten auf den Monitor. Das Bild der Überwachungskamera von Zimmer Nummer acht war unscharf, es war das Zimmer der jungen Frau, deren Namen niemand kannte, die keine Strümpfe und Schuhe trug.
Der jüngere Pfleger ging zur Tür. Er war erst seit zwei Monaten dabei, kannte sich aber seiner Meinung nach besser mit den Patienten aus als der Rest der Belegschaft. »Na, dann wollen wir doch mal sehen, wo’s heute juckt.«
Die junge Frau saß in der Ecke ihres Zimmers und schrie zornig und verängstigt zugleich. Sie hatte sich das Nachthemd zerrissen und hielt ihre linke Brust. Sie bemerkte nicht, wie der Pfleger das Zimmer betrat, denn den Blick hielt sie starr geradeaus gerichtet, als würde sie von etwas Unsichtbarem bedroht.
»Na, junge Frau, wo brennt’s denn?«, fragte der Pfleger und näherte sich der Frau vorsichtig. Er wirkte ein bisschen eingeschüchtert von der Unbedingtheit ihres Schreiens. Schließlich packte er die junge Frau an den Schultern und schüttelte sie sanft. Und plötzlich kam sie wieder zu sich, blicke den Pfleger mit aufgerissenen Augen an. Sie atmete schwer.
Er beobachtete, wie sie vornüberkippte und reglos auf dem Boden liegen blieb. Sie hatte das Bewusstsein verloren.
»Meine Güte!«, entfuhr es dem Pfleger. Er rannte zurück ins Schwesternzimmer und alarmierte den Bereitschaftsdienst.
Nach kurzer Behandlung verließ der Arzt das Zimmer der Patientin, die jetzt reglos auf ihrem Bett lag und endlich Schlaf gefunden hatte.
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»Sie hatten keine schöne Nacht heute, nicht?«
Die Psychiaterin saß vor ihr und blickte sie an. »Wovon haben Sie geträumt? Können Sie sich erinnern?«
Die junge Frau stützte sich mit den Ellenbogen auf den Knien ab und vergrub das Gesicht in den Händen. Sie wirkte müde und unkonzentriert.
»Ich weiß nie, ob ich wach bin oder schlafe, wenn es kommt.«
»Träumen Sie von Ihrem Vater?«
»Ja.«
»Seit wann haben Sie diese Träume?«
»Schon lange. Bestimmt seit seinem Tod.«
»Möchten Sie von dem Traum erzählen?«
»Nein.« Sie ergriff eine ihrer Locken und drehte sie langsam um den Zeigefinger. Dann steckte sie das Ende der Haare in den Mund und kaute darauf herum. »Ich hatte mal eine Zeit als junges Mädchen, da konnte ich nicht mehr vor die Tür gehen. Schwergefallen ist mir das schon immer. Ich bin zum Beispiel im Sommer immer gern zu Hause geblieben, weil ich die nackten Körper und die Gerüche der Menschen nicht ertrug. Aber irgendwie hatte ich es dann doch immer geschafft, mich zusammenzureißen.
An einem Tag hatte ich wieder früh mit dem Trinken begonnen. Ohne Alkohol kam ich nicht recht auf die Beine. Und trotzdem konnte ich mich an dem Tag nicht bewegen. Ich war wie gelähmt vor Angst.
Ich hab mich dann den Tag über mit Wodka über Wasser gehalten. Abends hab ich dann versucht, mir die Pulsadern aufzuschneiden. Ich hatte schon früher an mir rumgeschnitten, aber nicht richtig. Jetzt war es mir ernster, ich hatte gehört, dass Wasser gut ist, und deshalb wollte ich rüber zum Klo und versuchen, mich unter fließendem Wasser zu schneiden. Das Klo lag auf dem Gang, ich lebte in so einer Art Frauenwohnheim in der Hohenzollernstraße, das war das Einzige, was ich mir leisten konnte. Aber ich war so zugedröhnt und aufgekratzt, dass ich vergessen habe, die Tür zuzumachen, und wurde im letzten Moment von einer Nachbarin gefunden. Die hat den Notarzt gerufen. Im OP haben sie meine Schnitte mit dreizehn Stichen genäht. Danach kam ich in die Geschlossene.
Ich konnte mit niemandem reden, weil ich
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