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Ein allzu braves Maedchen

Ein allzu braves Maedchen

Titel: Ein allzu braves Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Sawatzki
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man das Sprechen irgendwann.
    Später sitze ich vor dem Fernsehapparat im Wohnzimmer. Es gibt noch kein Programm, aber das macht nichts. Ich betrachte die Farben des Standbilds und lausche dem schrillen Ton, der aus den Lautsprechern dringt. In Gedanken male ich Bilder auf den Bildschirm und komponiere eine Melodie aus den hohen Zwischentönen, die nur ich hören kann.
    Irgendwann muss ich eingeschlafen sein, denn das durchdringende Scheppern einer Türklingel lässt mich hochschrecken. Die Hunde im Garten bellen wie verrückt. Ich bleibe einfach sitzen. Ich sitze in meinem Sessel und warte. Es läuft eine Nachrichtensendung, aber ich verstehe den Inhalt nicht.
    Ich weiß wirklich nicht, wie viel Zeit vergangen ist, aber es ist schon wieder dunkel im Zimmer, als ich plötzlich das Gefühl habe, dass hinter mir jemand steht. Ich höre jemanden atmen.
    Ich kann den Ton des Fernsehapparats nicht leiser stellen, denn dazu müsste ich aufstehen. Also bleibe ich regungslos sitzen.
    Mein Problem ist, dass ich keine Angst vor etwas Realem habe. Ich habe Angst vor den Untoten. Manchmal wache ich nachts auf, weil ich spüre, dass sich mein Vater auf mein Bett setzt. Ich spüre seine kalte Hand an meiner Wange, aber bevor er mich packen kann, taste ich nach dem Lichtschalter und mache das Nachttischlämpchen an. Und glaube, eine Mulde in meiner Bettdecke zu sehen.
    Ich erinnere mich noch genau an die Nacht mit meinem Vater, als ich an den Punkt kam, wo es bei mir nicht mehr weiterging. Es war ungefähr zwei Uhr morgens. Da hatte er mich schon ein paarmal geweckt, ich war hundemüde und hatte Angst vor dem nächsten Schultag. Ich hatte immer Angst vor der Schule, weil ich mich nicht mehr konzentrieren konnte. Das Knarzen des Betts und das Quietschen der Kleiderbügel nebenan hatten mich geweckt. Also stand ich auf und ging in den Flur. Als ich Licht machte, stand mein Vater vor mir. Er trug seine Krawatte und die Nachtmütze. Er musterte mich argwöhnisch durch die Brillengläser, und dann erschien ein hintergründiges Lächeln auf seinen Lippen. ›Ihr glaubt also, dass das so funktioniert?‹ Ich wusste nicht, was er meinte. Ich war müde, und er machte mir Angst. Ich höre noch den flehenden Ton in meiner Stimme, als ich sagte: ›Bitte, Papa …‹
    Er wandte sich ab, lief zur Haustür und versuchte sie zu öffnen. Sie war abgeschlossen, und er wurde zornig, begann gegen das Holz zu schlagen und zu rufen. Jetzt weiß ich, dass er in dem Moment mindestens so große Angst hatte wie ich. Er kannte mich nicht und wusste nicht, wo er war. Er war vollkommen allein in seiner Fremdheit. Und ich wusste nicht, wie ich diesen Fremden beruhigen sollte, und schließlich lief ich ins Esszimmer zum Medikamentenschränkchen und holte eine Valium heraus. Ich versuchte sie ihm zu geben, aber er schlug sie mir aus der Hand.
    Unser Flur war recht hell. Die Tapete war so ein buntes Blumenmuster. Margeriten. Die Lieblingsblumen meiner Mutter. Der Teppichboden hellbraun. Ein bisschen wie frische Erde. Ich denke, dass meine Mutter ein wenig Fröhlichkeit in unsere Wohnung holen wollte.
    Ich stand neben einem roten Schirmständer aus Bambus und beobachtete meinen Vater, wie er gegen die Tür donnerte. Dann kam er plötzlich auf mich zu, nahm seinen Schwanz in die Hand und pisste neben mich zwischen die Schirme. Er fixierte mich dabei, und ein Lächeln lag auf seinen Lippen, das ich nicht vergessen kann. Es war herausfordernd, angriffslustig und zutiefst feindselig. Das grub sich mir ins Herz. Und danach wusste ich, dass es keine Rettung mehr geben würde. Wir waren Verlorene. Jeder für sich. Wir würden nie wieder zusammenfinden.
    Die Verzweiflung, die Enttäuschung über diese Erkenntnis ergriff mich in diesem Moment mit solcher Wucht, dass ich etwas tat, was ich bis heute bereue. Ich holte einen nassen Schirm aus dem Ständer und begann, auf meinen Vater einzudreschen. Ich war besinnungslos vor Schmerz. Ich hätte ihn totgeschlagen, wenn nicht irgendwann die Nachbarin geklingelt hätte. Seitdem weiß ich, dass das Böse in mir wohnt.«
    Dr. Minkowa unterbrach zum ersten Mal in all ihren Gesprächen ihre Patientin: »Das dürfen Sie nicht sagen. Niemand ist böse. Sie waren als kleines Mädchen ganz einfach überfordert.«
    Aber Manuela Scriba fuhr ungerührt fort: »Ich kann es beherrschen, aber in manchen Augenblicken bricht es sich seinen Weg aus mir heraus, das Böse. Neulich habe ich über Hunde mit fehlender Beißhemmung gelesen. Die

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