Ein allzu schönes Mädchen
wurde vermerkt,
dass es sich um den höchsten hölzernen Aussichtsturm Deutschlands oder gar Europas handelte. Er stand auf dem Sachsenhäuser
Berg, direkt am Rand des Stadtwaldes, wo sich Wendelsweg und Sachsenhäuser Landwehrweg kreuzten. Zuvor hatte hier bereits
ein kleinerer Turm gestanden, der aber kurz nach dem Ersten Weltkrieg wegen Baufälligkeit abgerissen worden war. Im Goethejahr
1931 war der neue Turm eingeweiht worden. Er war 43 Meter hoch und bestand ganz aus Holz. Im Winter wurde er geschlossen, aber während der schönen Jahreszeit kamen täglich oft
Hunderte Besucher, die die 196 Stufen emporkletterten.
Marthaler war in seiner ersten Frankfurter Zeit an den Wochenenden manchmal hier gewesen. Und in den späteren Jahren hatte
er gelegentlich Besucher von außerhalb auf den Turm geführt. Wenn man oben auf der überdachten Aussichtsplattform stand, hatte
man einen Blick über die gesamte Stadt. Bei klarem Wetter konnte man bis weit in den Taunus sehen und das Spiel der Wolkenschatten
über den Wäldern bewundern. Marthaler fand, dass man nirgends sonst eine so gute Vorstellung von Frankfurt und seiner Umgebung
bekam. Alle, die hier oben zum ersten Mal standen, wunderten sich, wie klein die Stadt in Wirklichkeit war, die sich so gern
als Metropole und manchmal sogar als heimliche Hauptstadt bezeichnete.
Marthaler war durchgeschwitzt. Als er bei Kerstin Henschel ankam, hatten die ersten Flüchtenden den Fuß des Goetheturms |341| erreicht. Aus dem kleinen Lokal, das sich zwischen Turm und Spielplatz befand, strömten die Neugierigen herbei. Es hatte sich
rasch herumgesprochen, dass etwas passiert war. Dass sich ein bewaffneter Mann auf dem Weg zur Aussichtsplattform befand.
Bald war der kleine, von Bäumen umgebene Platz mit Menschen überfüllt, die aufgeregt durcheinander redeten.
«Wie geht es dir? Was ist passiert?», fragte Marthaler. Es fiel ihm schwer zu sprechen. Er war noch außer Atem von dem steilen
Anstieg von der Polizeistation bis hier oben. Er verschaffte sich Platz und führte Kerstin Henschel zu einer Bank, wo er sie
drängte, sich zu setzen.
«Sollen wir einen Arzt holen?», fragte er.
Sie schüttelte den Kopf.
«Nein», sagte sie. «Ich glaube, es geht schon.»
Aber es war nicht zu übersehen, dass sie am Ende ihrer Kräfte war. Während sie stockend berichtete, trafen Döring und Liebmann
ein.
«Was ist?», fragte Döring. «Wir müssen hoch. Jetzt können wir ihn schnappen.»
«Nein, warte», sagte Marthaler. «Lass uns überlegen. Zuerst muss sich jemand um Kerstin kümmern. Dort oben kann er uns nicht
so einfach entwischen.»
Dann wandte er sich an Liebmann. «Sven, geh bitte mit Kerstin in das Lokal und frag, ob ein Arzt oder Sanitäter in der Nähe
ist. Dann müssen wir so schnell wie möglich den Platz räumen. Die Leute müssen hier weg. Wir sperren weiträumig ab.»
Er rief Berger an, der in der Station geblieben war, und berichtete, was geschehen war. Er bat ihn, die Aktion im Wald abzubrechen
und alle Einsatzkräfte zum Goetheturm zu schicken.
«Und es wäre gut, wenn du selbst auch kommen würdest», sagte Marthaler.
|342| Dann ging er zum Aufgang des Turms und stieg ein paar Stufen empor. Hinter ihm kamen noch immer Menschen die Treppe herunter,
die in panischer Angst vor Plöger flohen. Marthaler zog seinen Polizeiausweis und hielt ihn in die Höhe. Dann wandte er sich
an die Umstehenden.
«Ich bitte einen Moment um Ihre Aufmerksamkeit. Mein Name ist Robert Marthaler, ich bin Polizist. Wir befinden uns in einer
gefährlichen Situation. Ein von uns gesuchter Mann hat sich soeben auf dem Goetheturm verschanzt. Er ist bewaffnet. Wir müssen
mit allem rechnen.»
Sofort stieg der Geräuschpegel an. Die Leute waren aufgeregt. Eine Frau begann hysterisch zu schreien. Und eine Mutter versuchte,
ihr weinendes Baby zu beruhigen.
Marthaler hob beide Hände. Er wartete einen Moment, bis man ihm wieder zuhörte.
«Trotzdem bitte ich Sie, Ruhe zu bewahren», sagte er. «Alle, die eben noch auf dem Turm waren, sollen sich hier drüben auf
dem Parkplatz versammeln. Halten Sie sich zu einer kurzen Vernehmung bereit. Wir werden uns bemühen, Sie so schnell wie möglich
wieder zu entlassen.»
Den letzten Satz hatte Marthaler in Richtung von Kai Döring gesagt, der sich sofort auf den Weg machte.
«Alle anderen verlassen bitte jetzt schon das Gelände. Und zwar umgehend. Das gilt auch für die Besucher des Lokals
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