Ein allzu schönes Mädchen
schaffen. Ich glaube, es gibt nur eine sichere und wirksame Waffe in dieser
Situation, und das ist Geduld.»
Wieder einmal war Marthaler beeindruckt von Sven Liebmanns besonnener Art. Offensichtlich hatte er bereits alles bedacht.
Er hatte alle Möglichkeiten durchgespielt, um dann einen Vorschlag zu machen, den auch Marthaler für den richtigen hielt.
Trotzdem wollte er die Meinung der anderen Kollegen noch hören.
«Kerstin, was meinst du?», fragte er.
|349| «Entschuldigt. Ich denke dauernd über etwas anderes nach. Bevor er auf den Turm gestiegen ist, hat Hendrik Plöger irgendetwas
zu mir gesagt. Aber ich weiß nicht, was.»
«Wie meinst du das?»
«Er hat mich angeschaut und die Lippen bewegt. Er hat Worte geformt, ohne sie auszusprechen. Ich habe keinen Laut gehört.
Ich komme nicht darauf, was er gemeint haben könnte. Aber ich habe den Eindruck, dass es wichtig war.»
«Dann überleg bitte weiter», sagte Marthaler. «Jede Information, die uns hilft, Plöger und sein Verhalten besser einschätzen
zu können, ist im Moment wichtig.»
«Und ich hatte den Eindruck, dass er große Angst hat.»
«Dazu hat er ja wohl allen Grund», sagte Döring. «Trotzdem würde ich jetzt gerne wissen, was wir tun sollen.»
Er schaute kurz zu Liebmann hinüber. «Ich meine: außer warten.»
«Wir können das tun, was Sven vorgeschlagen hat», sagte Marthaler. «Und wir können versuchen, Kontakt zu Plöger aufzunehmen.
Allerdings habe ich keine Idee, wie wir das bewerkstelligen sollen.»
Marthaler merkte, dass Liebmann etwas sagen wollte. «Sven?»
«Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Wir können einen Lautsprecherwagen holen und mit Plöger sprechen. Das würde dann allerdings
ein sehr einseitiges Gespräch. Seine Antworten würden wir hier unten nämlich nicht verstehen. Oder einer von uns versucht
doch, auf den Turm zu gelangen und mit ihm zu reden.»
«Warum machen wir nicht beides?», sagte Manfred Petersen. «Wir machen ihm über Lautsprecher das Angebot, seine Geiseln, falls
er welche hat, gegen einen von uns auszutauschen. Und wir kündigen ihm an, dass derjenige, der dazu |350| bereit ist, unbewaffnet auf den Turm kommen wird. So ist er vorbereitet und fühlt sich wenigstens nicht überrumpelt.»
Kerstin Henschel schüttelte den Kopf.
«Wer soll das tun?», sagte sie und schaute Petersen an. «Manfred, wer von uns soll da hochgehen?»
Petersen wich ihrem Blick aus.
«Wenn ihr mir das zutraut, würde ich es machen», sagte er.
«Kommt nicht in Frage», erwiderte Marthaler. «Das ist meine Aufgabe. Besorgt einen Lautsprecherwagen. Je schneller wir diesen
Versuch unternehmen, umso besser.»
Um 16.44 Uhr machte Marthaler seine erste Durchsage. Er saß auf dem Beifahrersitz des Polizeifahrzeugs und hielt das Mikrophon in der
Hand. Er schwitzte stark. Sein Mund war trocken. Er bat den Fahrer des Wagens, ihm eine Flasche Wasser zu besorgen. Er trank
einen Schluck, dann drückte er den Schalter. «Hendrik Plöger, hören Sie mich? Hier spricht die Polizei.»
Marthaler erschrak. Seine Stimme war so laut, dass er den Eindruck hatte, man müsse sie bis weit in die angrenzenden Viertel
hören. «Wir machen Ihnen ein Angebot. Lassen Sie Ihre Geiseln frei! Im Austausch werde ich zu Ihnen auf den Turm kommen. Ich
werde unbewaffnet sein. Ich werde allein kommen. Wenn Sie verstanden haben und unseren Vorschlag akzeptieren, geben Sie uns
ein Zeichen. Winken Sie mit einem Kleidungsstück.»
Sie warteten zwei Minuten, starrten mit Feldstechern hinauf zur Aussichtsplattform. Es kam keine Reaktion. Nichts war zu sehen.
Marthaler wiederholte seine Durchsage.
«Hendrik Plöger! Wir warten noch eine Minute», sagte er dann. «Wenn wir bis dahin nichts von Ihnen sehen, werde ich zu Ihnen
kommen. Ihnen wird nichts geschehen. Wir wollen lediglich verhandeln.»
|351| Als Marthaler den Lautsprecherwagen verließ, flammten hinter dem Absperrungsband die Blitzlichter der Fotografen auf. Die
Zahl der anwesenden Journalisten und der Schaulustigen hatte sich vervielfacht. Er war sich sicher, dass die Fernsehanstalten
bereits Sondersendungen brachten. Wahrscheinlich war seine Durchsage direkt in die Wohnzimmer des Landes übertragen worden.
Von nun an würden sie ihre Arbeit unter den Augen der gesamten Öffentlichkeit tun müssen. Jeder Schritt würde kommentiert,
jede Maßnahme beurteilt werden.
Er zog sein Jackett aus. Er ging rüber zum Aufgang des Turms, wo sich die anderen
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