Ein allzu schönes Mädchen
Zimmer geöffnet haben. Schließlich hing noch immer
das ‹Bitte nicht stören›-Schild an der Tür.»
«Und wann ist Ihnen Herr Lohmann zuletzt begegnet?», fragte Marthaler.
«Sie meinen: lebend?»
Marthaler verdrehte die Augen. «Natürlich: lebend.»
«Das ist schon ein paar Tage her. Vielleicht am Donnerstag oder Freitag. Am Samstag hatte ich frei. Danach habe ich ihn jedenfalls
nicht mehr gesehen.»
«Gut», sagte Marthaler, «dann können Sie jetzt erst mal wieder gehen. Aber halten Sie sich bitte zu unserer Verfügung.»
Der Mann zögerte. Es schien, als wolle er noch etwas sagen. Marthaler reagierte ungeduldig. «Ist noch was?»
Nun schüttelte Zoran Stanojewic den Kopf und verließ den Raum.
Sven Liebmann wartete, bis die Tür von außen geschlossen wurde, bevor er anfing zu sprechen.
«Wenn es stimmt, was Schilling sagt, dass Lohmann bereits seit zwei bis vier Tagen tot ist, Marie-Louise Geissler aber erst
gestern Morgen das Hotel verlassen hat …» Er ließ das Ende des Satzes unausgesprochen.
«Dann heißt das: Sie hat noch mindestens 24 Stunden mit |403| der Leiche in einem Zimmer verbracht», sagte Manfred Petersen.
«Wenn ihr mich fragt», schaltete sich Kai Döring ein, «hat die Dame eine schwere Macke.»
Ohne auf die Äußerung seines jungen Kollegen einzugehen, gab Marthaler nun seine Anweisungen.
«Ich schlage vor, dass wir umgehend mit der Vernehmung des Hotelpersonals fortfahren. Die Sperrung der Ein- und Ausgänge können
wir wieder aufheben. Ich werde versuchen, einen Ermittlungsrichter aufzutreiben. Wir brauchen einen Haftbefehl gegen Marie-Louise
Geissler. Wie die Dinge sich jetzt darstellen, steht sie im dringenden Verdacht, Bernd Funke, Jochen Hielscher und Georg Lohmann
getötet zu haben. Ich möchte, dass binnen der nächsten zwei Stunden sämtliche Polizisten in dieser Stadt das Foto der Gesuchten
erhalten. Und wir werden die Pressestelle bitten, sofort alle erreichbaren Medien zu informieren. Ich bin sicher, die Zeitungen
und Fernsehsender werden nichts lieber tun, als das Bild einer schönen Mörderin zu drucken. Wenn alles so läuft, wie ich mir
das vorstelle, wird es morgen Mittag niemanden mehr geben, der nicht weiß, wie die Täterin aussieht.»
«Wir haben nur ein Problem», sagte Kai Döring.
«Nämlich?»
«Wir wissen nicht, wo wir sie suchen sollen. Wir haben keine Ahnung, wo sie sich aufhält. Sie hat mehr als einen Tag Vorsprung.
Wenn wir Glück haben, ist sie noch in der Stadt. Vielleicht hat sie sich wieder in irgendeinem leer stehenden Haus verkrochen.
Vielleicht hat sie aber auch längst das Land verlassen und sucht sich ihr nächstes Opfer irgendwo im Ausland, vielleicht sogar
in Übersee.»
«Obwohl ich das für unwahrscheinlich halte», erwiderte Marthaler, «besteht auch diese Möglichkeit. Also müssen wir die Fluggesellschaften
abklappern und sämtliche Passagierlisten |404| der letzten dreißig Stunden überprüfen. Wir schicken Streifenwagen mit dem Fahndungsfoto zu allen Taxihaltestellen. Wir hängen
Plakate in die Postämter, Supermärkte und Krankenhäuser. Wir haben keine andere Wahl: Wir müssen das ganz große Programm durchziehen.»
Marthaler lehnte sich zurück. Er wusste, was sie sich mit einer solchen Fahndung zumuteten. Kerstin Henschel sah ihn kopfschüttelnd
an.
«Was ist?», fragte er. «Bist du nicht einverstanden?»
«Doch», erwiderte sie. «Aber mir fällt nur gerade auf, wie schrecklich du aussiehst.»
«Ich weiß. Ich habe heute Nacht schon wieder kaum geschlafen. Ich werde jetzt den Haftbefehl besorgen und mich dann für ein
paar Stunden hinlegen. Ich fürchte, in meinem jetzigen Zustand bin ich sowieso nicht sehr hilfreich.»
Kerstin Henschel hatte bereits mit dem Büro der Staatsanwaltschaft telefoniert, sodass er den Antrag auf Ausstellung eines
Haftbefehls nur noch in Empfang zu nehmen brauchte. Dass er damit beim Ermittlungsrichter auf Schwierigkeiten stoßen würde,
damit allerdings hatte Robert Marthaler nicht gerechnet.
Er kannte Magnus Sommer als einen freundlichen, allzeit kooperationsbereiten Juristen, der ebenso umsichtig wie entschlussfreudig
war. Der sportliche Mann war Mitte fünfzig, und Marthaler mochte ihn schon deshalb, weil er mehrmals bewiesen hatte, dass
ihm seine Karriere im Zweifelsfall egal war. Er traf seine Entscheidungen ausschließlich aufgrund sachlicher Argumente und
hatte sich bislang nie von politischen Rücksichtnahmen leiten
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