Ein allzu schönes Mädchen
Tag nicht mit Bestimmtheit sagen können.
Denn in dieser Nacht trieben die Träume ihr Unwesen in Marthalers Kopf.
Er sah einen schwarzen Reiter, der mit seinem Pferd auf einer Wiese unter einem blühenden Apfelbaum stand und eine kleine
Katze auf dem Arm trug. In der Ferne erhob sich im Nebel eine weiße Festung. In den Ästen des Baumes näherte sich eine riesige
Schlange, die sich züngelnd auf den Kopf der |411| Katze zubewegte. Die Katze fauchte, aber es half ihr nichts. Die Schlange öffnete das Maul, schnappte zu und verschlang das
Kätzchen. Der schwarze Reiter lachte. Das grausame Spiel schien ihm Vergnügen zu bereiten.
Er lachte auch dann noch, als Marthalers Träume ihren Schauplatz gewechselt hatten und er durch dunkle Straßen einer fremden
Frau folgte. Er lief ihr nach, rief abwechselnd die Namen Katharina und Tereza, aber als die Frau sich endlich umdrehte, sah
er anstelle ihres Gesichts nur eine weiße Fläche und einen lächelnden großen Mund.
Er baute Sandburgen mit Marie-Louise Geissler, bis der Richter Magnus Sommer sich kopfschüttelnd näherte und sagte: «Das gefällt
mir nicht, das gefällt mir ganz und gar nicht.» Er verirrte sich in den Gängen eines großen Hotels, öffnete eine Zimmertür
nach der anderen, musste aber feststellen, dass sämtliche Eingänge zugemauert waren. Er war ein kleiner Junge und rührte weinend
in einem Eimer voller Blut, bis sein Vater kam, ihm über den Kopf streichelte und sagte: «Keine Angst, mein Junge, das ist
doch nur Farbe.»
Schließlich sah Marthaler sich noch einmal am Fuß des Goetheturms stehen. Hendrik Plöger saß oben auf der hölzernen Balustrade
und drohte zu springen. Marthaler wusste nicht, was er tun sollte. Er rannte in den Wald und kam wieder zurück. Er lief ein
paar Stufen der Turmtreppe hinauf und kehrte wieder um. Er wollte dem jungen Mann etwas zurufen, aber ihm fehlten die Worte.
Dann sprang Plöger, doch bevor er auf dem Boden aufschlug, wachte Marthaler auf.
Erleichtert stellte er fest, dass er in seinem Bett lag. Er hörte Tereza irgendwo in der Wohnung ein fröhliches Lied pfeifen.
Als er in die Küche kam, schaute sie ihn einen Moment lang prüfend an. Er reagierte unsicher.
«Hat der mutige Ritter gut geschlafen?»
«Ich weiß nicht», antwortete Marthaler, «ich glaube, ich |412| habe viel geträumt. Aber ich kann mich schon kaum noch erinnern. Was machst du heute?»
«Ich gehe noch mal ins Städel. Ich will sehen, ob sie mir Reproduktionen von den beiden Goyas anfertigen können. Dann werde
ich zum Arbeitsamt gehen und fragen, ob sie einen neuen Job für mich haben. Vielleicht frage ich auch mal beim tschechischen
Konsulat. Ich muss wieder etwas Geld verdienen.»
«Wenn du willst, kann ich dir aushelfen.»
«Du hilfst mir schon genug, indem du mich bei dir wohnen lässt. Der Espresso ist noch heiß. Und im Ofen liegen zwei Brötchen
für dich.»
Bevor er noch etwas erwidern konnte, hatte sie bereits den Schlüssel in der Hand und zog mit einem «Tschühüs» die Wohnungstür
hinter sich zu.
Es war kurz nach neun, als er im Präsidium ankam. Der Hausmeister hatte ihm vorgeschlagen, sein Rad künftig im Schuppen neben
der Werkstatt abzustellen, und er hatte das Angebot dankend angenommen.
Im Treppenhaus begegnete ihm Manfred Petersen, der gerade auf dem Weg nach Hause war, um sich für ein paar Stunden hinzulegen.
Er hatte die ganze Nacht durchgearbeitet.
«Gut, dass du kommst», sagte er, «dort oben ist der Teufel los. Die Telefone stehen nicht mehr still.»
Im Besprechungszimmer des Kommissariats hatten sie eine provisorische Telefonzentrale für die eingehenden Hinweise eingerichtet.
Aber sie hatten nicht damit gerechnet, dass sie von einer solchen Flut von Anrufen überschwemmt würden. So mussten sie zunächst
zwei, später sogar fünf Telefone anschließen.
Alle Fernsehanstalten hatten im Laufe des gestrigen Nachmittags |413| und Abends das Foto von Marie-Louise Geissler wiederholt gezeigt. In sämtlichen Morgenzeitungen war der Fahndungsaufruf abgedruckt.
Keine Redaktion wollte sich die Geschichte entgehen lassen. Dass in einem Nobelhotel einer ihrer Kollegen ermordet worden
war, schien den Reiz für die Journalisten noch erhöht zu haben. Und die Boulevardblätter überboten sich in der Drastik ihrer
Schlagzeilen: «Killer-Lady tötet Lady-Killer», «Schlachthaus in der Luxus-Suite», «Schöne Mörderin im Blutrausch». Dass das
Mordopfer als
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