Ein allzu schönes Mädchen
lassen. Nicht zuletzt aber beruhte die Zuneigung des Polizisten
zu dem Richter auch darauf, dass sie das Interesse für klassische Musik teilten. Sie hatten sich im Laufe der letzten Jahre
immer mal wieder bei einem |405| Konzert in der Alten Oper getroffen, und gelegentlich tauschten sie am Telefon Tipps über neue oder seltene Aufnahmen aus.
So hatte ihn Magnus Sommer erst kürzlich auf die wunderschöne Einspielung von Beethovens Eroica unter Hermann Scherchen aufmerksam
gemacht. Irgendwann waren sie, ohne es zu thematisieren, vom Sie zum Du übergegangen.
Jetzt zog der Richter die Augenbrauen hoch und schaute Marthaler über den Rand seiner Lesebrille hinweg an. Er hatte dem Polizisten
lange und aufmerksam zugehört. Dann hatte er den Antrag und die Begründung eingehend studiert und dabei mehrmals den Kopf
geschüttelt.
«Das gefällt mir nicht», sagte er.
Marthaler war sichtlich irritiert. Er war davon ausgegangen, dass die Ausstellung des Haftbefehls gegen Marie-Louise Geissler
eine reine Formsache sein würde.
«Wenn ich es recht sehe, habt ihr in nur einer Woche drei Verdächtige präsentiert. Da war zuerst dieser …» Magnus Sommer schaute in seine Unterlagen. «… Jörg Gessner. Bestimmt ein Strolch, aber wir mussten ihn wieder laufen lassen. Dann kam Hendrik Plöger an die Reihe. Plötzlich
stand der ganz oben auf eurer Liste. Und jetzt diese junge Frau, deren Namen ich gerade zum ersten Mal höre. Warum soll es
plötzlich nicht mehr Plöger gewesen sein? Nur, weil er sich umgebracht hat? Er wäre nicht der erste Mörder, der sich das Leben
nimmt.»
Marthaler musste all seine verbliebene Kraft zusammennehmen, um sich auf den Disput mit dem Richter einzulassen.
«Was auch immer im Wald geschehen ist», sagte er mit leiser Stimme. «Nach Lage der Dinge kommt für den Mord im ‹Frankfurter
Hof› nur Marie-Louise Geissler in Frage.»
«Nach Lage der Dinge? Nach Lage welcher Dinge? Ihr habt noch nicht einmal alle Spuren am Tatort gesichert. Von einer Auswertung
dieser Spuren gar nicht zu sprechen. Und |406| die Tatzeit ist noch völlig ungewiss. Von welcher Lage und welchen Dingen sprichst du also?»
«Aber Marie-Louise Geissler hat mindestens einen vollen Tag neben der Leiche zugebracht. Wenn sie es nicht war, warum hat
sie niemanden vom Tod Georg Lohmanns benachrichtigt? Stattdessen ist sie spurlos verschwunden.»
«Und was heißt das? Nach allem, was du mir erzählt hast, muss man in ihr einen gestörten Menschen sehen. Angenommen, diese
Lehrerin hatte Recht, und die Kleine wurde von ihrem Vater missbraucht, angenommen, sie saß damals im Auto der Familie und
hat den Unfall überlebt, angenommen, sie wurde im Stadtwald von den jungen Männern vergewaltigt, und das ist es ja, was wir
vermuten müssen – dann wäre sie doch wohl in mehrfacher Hinsicht hochgradig traumatisiert. Robert, dann wäre sie erst mal
und vor allem ein Opfer.»
«Dass Opfer zu Tätern werden können, muss ich dir wohl nicht erklären.»
Der Richter schüttelte erneut den Kopf. «Die Betonung liegt auf ‹können›. Und es behagt mir ganz und gar nicht, mich dem Druck
der Öffentlichkeit zu beugen. Warum fahndet ihr nicht einfach nach ihr als Zeugin? Dafür braucht ihr keinen Haftbefehl.»
Marthaler merkte, wie ihn die Kraft verließ. Er war sich seiner Sache sicher, aber er wusste nicht mehr weiter. Das Einzige,
was ihm noch blieb, war ein Eingeständnis.
«Die Ermittlungen sind weiß Gott nicht so gelaufen, wie ich mir das vorgestellt habe. Aber außer dieser jungen Frau haben
wir nichts. Wir müssen sie finden. So schnell wie möglich. Wir müssen die ganz große Maschine anwerfen. Und du weißt genauso
gut wie ich, dass ich die Leute und die Mittel dafür nur bekomme, wenn ich einen Haftbefehl habe.»
Der Richter sah ihn eine Weile schweigend an. Dann schob er seine Brille ein Stück nach oben, nahm einen Stift, ließ ihn |407| über dem Blatt kreisen, zögerte nochmals einen Moment, um schließlich doch zu unterschreiben.
Marthaler wollte sich bedanken, aber Magnus Sommer hob abwehrend die Hand.
«Verschwinde», sagte er. «Und schau bei Gelegenheit mal in den Spiegel. Du siehst …»
Marthaler schnitt ihm das Wort ab. «Schon gut, schon gut. Man hat es mir bereits gesagt: Ich sehe schrecklich aus. Und weißt
du was? Ich fühle mich auch so.»
|408| Drei
Obwohl es keinen Grund dafür gab, hatte er Tereza gegenüber ein schlechtes Gewissen. Er hatte sie
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