Ein allzu schönes Mädchen
beabsichtigt. |394| Die Lehrerin mühte sich, die Fassung zu bewahren. Ihr Stimme zitterte. «Warum hätte ich das tun sollen?»
«Um die Stelle zu bekommen, die Peter Geissler besetzen sollte.»
Sie schüttelte heftig den Kopf. «Nein, so war es nicht. Ich war hin und her gerissen. Woche für Woche hat Marie-Louise hier
gesessen und geweint. Immer, wenn wir über ihren Vater redeten, begann sie zu heulen. Alle Andeutungen, die sie machte, ließen
nur den Schluss zu, dass er sie missbraucht hat. Wenn ich sie fragte, hat sie geschwiegen. Ich wollte sie zu einem Psychologen
schicken, aber sie hat sich geweigert. Und mir war klar, wenn sie mit mir nicht darüber reden wollte, würde sie es auch keinem
anderen sagen. Ich wusste nicht, was ich tun soll. Ich wollte ihren Vater nicht zu Unrecht einem so schrecklichen Verdacht
aussetzen; andererseits durfte ich nicht zulassen, dass dem Mädchen so etwas geschieht. Es war ausweglos.»
Marthaler schwieg lange. Er wartete. Aber die Lehrerin sagte nichts mehr.
«Und als Peter Geissler Rektor werden sollte, haben Sie sich entschlossen, den Brief zu schreiben?»
Lieselotte Grandits nickte stumm. Dann begann sie zu schluchzen. «Ich wollte das alles nicht … Es war eine Dummheit … ein riesiger Fehler. Aber ich kann es nicht wieder gutmachen.»
Marthaler nickte. Dann stand er auf. Er wusste nicht, was er noch sagen sollte. Er wollte so rasch wie möglich ins Freie.
Er öffnete die Haustür und ging nach draußen. Er atmete durch. Er durchquerte den Vorgarten. Als er auf der Straße stand,
drehte er sich noch einmal kurz um. Erst jetzt merkte er, dass er die Haustür nicht wieder geschlossen hatte. Er lief bis
zur Hauptstraße und wartete auf den Bus, der ihn zurück in die Innenstadt bringen sollte.
|395| Es war 8.59 Uhr, als sein Blick auf die große Uhr im Bahnhof von Saarbrücken fiel. Er ging zum Informationsschalter und fragte nach der
schnellsten Verbindung Richtung Frankfurt. Weil die Strecke über Kaiserslautern wegen eines Gleisschadens gesperrt war, musste
er den Umweg über Karlsruhe nehmen. Er holte sich einen Becher Kaffee und ein heißes Croissant, ging zum Gleis und nahm dieses
karge Frühstück im Stehen ein. In Karlsruhe stieg er um. Er setzte sich auf einen der Fensterplätze in einem leeren Raucherabteil,
steckte sich eine Mentholzigarette an und schaute hinaus. Die Bahnstrecke verlief parallel zur Bundesstraße 3. Plötzlich sah er am Straßenrand ein Gebäude, das ihm bekannt vorkam. Vor Überraschung und Freude wäre er fast von seinem Sitz
aufgesprungen. Tatsächlich, es war die Tankstelle Schwarzmoor, und die Frau, die dort vor dem Garagentor stand und sich die
Hände an ihrem Blaumann abwischte, war Paola Gazetti. Automatisch und ohne daran zu denken, dass sie ihn wohl kaum würde sehen
können, hatte er die rechte Hand gehoben, um ihr zuzuwinken. Eine Weile später, der Zug hatte den Stadtrand von Bruchsal bereits
erreicht, merkte Marthaler, dass er beim Gedanken an die Werkstattbesitzerin noch immer lächelte.
|396| Zwei
Es war fast Mittag, als sein Zug den Frankfurter Hauptbahnhof erreichte. Wenige Minuten später betrat er das Präsidium. Schon
auf dem Gang merkte er, dass etwas nicht stimmte. Obwohl keiner seiner Kollegen zu sehen war, konnte man die Aufregung förmlich
spüren. Dann flog die Tür des Sitzungsraums auf. Kerstin Henschel stürmte heraus und schnallte sich im Laufen ihre kugelsichere
Weste um.
«Da bist du ja», rief sie. «Schnell, wir müssen zum ‹Frankfurter Hof›. Es ist etwas passiert. Petersen wartet schon unten
mit dem Wagen.»
Sie schob sich an Marthaler vorbei und war im nächsten Moment bereits im Treppenhaus.
«Was ist? Worauf wartest du?»
Er hatte Mühe, ihr zu folgen. «Kannst du mir vielleicht sagen, was eigentlich los ist?»
Während sie immer zwei Stufen auf einmal nahm, teilte sie ihm mit, dass vor einigen Minuten ein Notruf eingegangen sei. Jemand
habe aus der Rezeption des Hotels «Frankfurter Hof» angerufen und berichtet, dass in einem der Gästezimmer eine Leiche liege.
«Ein toter Mann», sagte Kerstin Henschel. «Mehr weiß ich nicht. Er soll schlimm aussehen.»
«Die Spurensicherung?»
«Schilling ist unterwegs.»
Sie stiegen in den Streifenwagen, dessen Motor bereits lief. Manfred Petersen saß am Steuer. Als sie den Hof des Präsidiums
mit großer Geschwindigkeit verließen, schaltete er die Sirene und das Blaulicht ein. Auf der
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