Ein allzu schönes Mädchen
vom «Frankfurter Hof» aus
angerufen und gesagt, dass er am frühen Abend nach Hause komme. Sie hatte ihn gefragt, ob er Lust habe, noch etwas gemeinsam
zu unternehmen. Er sei erschöpft, hatte er geantwortet, und müsse bald ins Bett. Er wusste, dass sie ihm keine Vorwürfe machen
würde, aber er hatte den Eindruck, dass sie sich einen unterhaltsameren Mitbewohner vorgestellt hatte, als sie bei ihm eingezogen
war.
Als er nun seine Wohnungstür im Großen Hasenpfad öffnete, schlug ihm der Duft einer warmen Mahlzeit entgegen. Erst jetzt merkte
er, wie groß sein Hunger war. Seit dem Croissant auf dem Saarbrücker Bahnhof hatte er nichts mehr gegessen. Aus dem Wohnzimmer
hörte er Musik. Es waren Dvořáks Slawische Tänze.
«Da bist du ja», sagte Tereza und begrüßte ihn mit einem strahlenden Lächeln. «Bist du hungrig? Es dauert noch eine Viertelstunde.»
«Das ist gut. Dann kann ich noch rasch duschen.»
Sie trug ein bunt geblümtes Sommerkleid und hatte die Haare im Nacken hochgesteckt. Sie machte zwei Schritte auf ihn zu, dann
drehte sie sich mit einem kleinen Kichern weg.
«Was ist?», fragte er.
«Fast hätte ich dich mit Freude geküsst», sagte sie.
Er war zu irritiert, um auf diese Eröffnung zu reagieren, also sagte er nur, dass er sich auf das Essen freue und gleich wieder
da sei. Dann verschwand er im Bad. Er nahm eine ausgiebige Dusche, rasierte sich anschließend, band sich ein |409| Badetuch um die Hüften, ging ins Schlafzimmer und zog sich frische Hosen und ein neues Hemd an.
Tereza hatte den Tisch bereits gedeckt: zwei große Platzteller, die silbernen Bestecke, die Katharina und er von seinen Eltern
zur Hochzeit bekommen hatten und die er kaum je benutzte. Dazu Stoffservietten und in der Mitte des Tisches eine brennende
Kerze. Während er sich setzte, hantierte sie noch in der Küche.
«Gibt es etwas zu feiern?», fragte er.
«Die Heimkehr des mutigen Ritters», rief sie.
Dann trug sie auf. Zwei knusprige Gänsekeulen. In Scheiben geschnittene Serviettenknödel. Und eine Schüssel mit Apfelrotkohl.
Dazu gab es ein dunkles tschechisches Bier.
«Mmmh, das riecht ja wie Weihnachten.»
«Ich weiß», sagte sie, «eigentlich ist es zu heiß für ein solches Essen. Aber ich hatte ein bisschen … wie sagt man, Heimschmerz?»
Es dauerte einen Moment, bis ihm einfiel, was sie sagen wollte. «Du meinst Heimweh.»
«Ja, Heimweh. Ein schönes Wort. Ich habe viel an Prag gedacht und an meine Freunde. An die Familie und an die Wiese hinter
unserem Haus. Es war schön, daran zu denken, aber es hat mich auch ein bisschen traurig gemacht.»
Marthaler aß mit großem Appetit. Er genoss es, in seiner eigenen Wohnung so freundlich empfangen und dann auch noch bekocht
zu werden. Trotzdem war ihm nicht ganz behaglich zumute. «Tereza, ich glaube, wir sollten einmal reden. Ich habe das Gefühl,
deine Erwartungen nicht erfüllen zu können. Es liegt nicht nur an dem Fall, nicht nur an der vielen Arbeit, die ich im Moment
habe. Ich war sehr lange nicht mit einer Frau zusammen …»
Tereza legte den ausgestreckten Zeigefinger auf ihre Lippen. «Pssst. Sag nichts. Ich wollte dir etwas vorspielen.»
|410| Sie ging zur Musikanlage und legte eine neue CD ein. Er kannte das Stück, aber in einer anderen Version.
«Janáček, nicht wahr?»
Sie nickte. Ihre Augen leuchteten. «Ja. Das Zweite Streichquartett. Aber in der Urfassung. Ich schenke es dir.»
Sie schwiegen einen Moment und lauschten der Musik.
«Nein», sagte Tereza schließlich, «es gibt nichts zu reden. Im Moment jedenfalls nicht. Es ist, wie es ist. Und es wird, wie
es wird.»
Marthaler nickte. Das Essen und das Bier hatten ihn schläfrig gemacht. Er wollte den Tisch abräumen, aber sie drängte ihn,
ins Bett zu gehen.
«Nein, geh. Du fühlst dich müde an», sagte sie.
Das, fand er, war eine freundliche Umschreibung seines Zustandes. Freundlicher jedenfalls als die Worte, die Kerstin Henschel
gefunden hatte.
Er gab Tereza einen Kuss auf die Stirn und ging ins Schlafzimmer. Er zog sich aus und legte sich nackt unter das Laken. Im
Einschlafen hörte er, wie sie neue Musik auflegte. Es war jetzt wieder Dvořák. Der zweite Satz aus dem Klavierquartett A-Dur . Sie schien wirklich großes Heimweh zu haben.
Ob Tereza ins Schlafzimmer kam, ihr Kleid über den Kopf streifte, zu ihm ins Bett schlüpfte und sich an seinen Rücken drängte
oder ob er das nur geträumt hatte, hätte er am nächsten
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