Ein allzu schönes Mädchen
grau und
wolkenverhangen. Die Fußgänger liefen mit hochgezogenen Schultern und mürrischen Gesichtern über die Bürgersteige zu ihren
Arbeitsstellen. Die Möwen kreisten über dem trüben Wasser des Mains, und ein Lastkahn tuckerte langsam flussabwärts unter
der Brücke hindurch.
Seine erste Station war eine kleine Konditorei. Er grüßte die Verkäuferin, eine dicke, immer fröhliche Frau, die ihn gelegentlich
zu einer Tasse Kaffee einlud. Heute lehnte er dankend ab, ließ sich aber zwei belegte Brötchen einpacken und |99| wartete, bis die Frau das Wechselgeld aus dem Tresor geholt hatte, um sich zu verabschieden. Dann besuchte er die Tankstelle
auf der Mörfelder Landstraße, überwachte den Schichtwechsel und fuhr anschließend auf den Lerchesberg, wo er ein paar Privathäuser
kontrollieren musste, deren Besitzer verreist waren. Als Erstes fuhr er zu einem Bungalow im Nansenring. Er öffnete die Haustür,
warf einen Blick in den Flur und überprüfte die Alarmanlage. Alles war in Ordnung. Er machte einen Haken auf seiner Liste.
Auch die nächsten Häuser waren ordnungsgemäß verschlossen.
Herbert Weber schaute auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor neun. Er wickelte seine Brötchen aus, goss sich einen Schluck
Tee aus der Thermoskanne in einen Becher und blätterte in der Tageszeitung. Als er sein Frühstück beendet hatte, war es wenige
Minuten vor halb zehn. Seine letzte Station auf dem Lerchesberg war die Villa der Familie Brandstätter. Er kannte das Haus
seit langem, es lag direkt am Waldrand, und er hatte es in den vergangenen Jahren in der Urlaubszeit schon häufig kontrollieren
müssen. Als er heute vor der Garagenauffahrt parkte, hatte er ein merkwürdiges Gefühl. Etwas war anders als sonst, aber er
hätte nicht sagen können, was. Er stieg aus dem Wagen und schaute sich um. Vielleicht war es der weiße Pajero, der unweit
des Hauses halb verdeckt auf einem Waldweg stand und den er noch nie hier gesehen hatte. Andererseits gab es keinen Grund,
deshalb misstrauisch zu werden. Ein Spaziergänger, ein Kleingärtner, ein Hundebesitzer, jeder konnte ein solches Auto hier
abgestellt haben. Trotzdem war er beunruhigt. Er ging zur Haustür und lauschte. Nichts. Neben dem Klingelschild klebte ein
Zettel mit der Ankündigung, dass der Bezirksschornsteinfeger in einer Woche zur Reinigung des Kamins kommen werde. Herbert
Weber trat ein paar Schritte zurück und betrachtete das Haus von neuem. Dann fiel ihm auf, dass eine der Mülltonnen nicht
an ihrem Platz |100| stand. Dort, wo sie sich hätte befinden müssen, war ein trockener, heller Fleck, während die Platten rundherum noch feucht
waren. Das hieß, dass jemand die Tonne entfernt hatte, nachdem es aufgehört hatte zu regnen. Er merkte, wie seine Aufregung
wuchs. Er ging um das Haus herum und sah, dass die Tonne an die rückwärtige Garagenwand gerollt worden war. Auf dem Deckel
entdeckte er eine Spur frischer Erde.
Einen Moment lang schloss er die Augen und atmete durch. Er hatte Angst, dass ihm sein Herz Schwierigkeiten machen würde.
Er legte den Kopf in den Nacken und schaute hoch. Es war, wie er befürchtet hatte. Die Scheibe des kleinen Dachfensters war
zerbrochen. Und jetzt erst bemerkte er, dass der Rolladen des Salons nicht heruntergelassen war.
Was sollte er tun? Eigentlich hätte er sofort in der Zentrale anrufen und darum bitten müssen, dass man die Polizei verständigte.
Er entschied sich anders.
Er ging zurück auf die Vorderseite der Villa, suchte den Schlüssel, lauschte nochmals an der Haustür, und als er von innen
kein Geräusch vernahm, öffnete er sie. Auf dem Boden der Diele lagen ein paar Briefe, die jemand durch den Schlitz geworfen
hatte. Er hob die Briefe auf und legte sie auf das Buffet neben der Garderobe. Er ging die zwei Stufen zum Salon hinauf.
Die Tür war offen.
Er sah die Frau sofort.
Sie war jung. Sie gehörte hier nicht hin. Sie saß im Sessel am Fenster und hatte ein Fotoalbum auf dem Schoß. Sie sah ihm
direkt in die Augen. Er entdeckte keine Spur von Furcht in ihrem Gesicht. Nur Neugier und Erstaunen.
Sie war sehr schön.
Er hatte das Gefühl, dass sie einander endlos lange anstarrten. |101| Er atmete schwer. Er merkte, wie ihm unter dem Hemd ein paar Schweißtropfen den Oberkörper hinabliefen.
Dann drehte er sich um und ging zurück in die Diele. Die Haustür stand noch immer offen. Ohne zu zögern, ging er hinaus, zog
die Tür ins Schloss und drehte
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