Ein allzu schönes Mädchen
war.
Nachdem sie fast eine Stunde reglos und mit geschlossenen Augen in der Wanne gelegen hatte, begann sie zu frieren. Sie seifte
sich ein, schamponierte ihr Haar und brauste sich dann ausgiebig ab. An einem Haken fand sie einen Bademantel, wickelte sich
darin ein, schlang ein Badetuch um ihre Haare, ging zurück ins Schlafzimmer und zog sich an. Anschließend nahm sie vor der
Kommode Platz und begann, sich zu schminken. Als sie Lippenstift und Wimperntusche aufgetragen hatte, trat sie vor die verspiegelte
Tür der Schrankwand, um sich zu betrachten. Sie lachte. Und jetzt erinnerte sie sich an den |94| kleinen Jungen mit seinem roten Plastikauto, der sie gefragt hatte, ob sie eine Schauspielerin sei.
Sie stieg die Treppenstufen hinab ins Erdgeschoss und inspizierte auch hier nacheinander alle Räume. An der Wand neben der
Wohnzimmertür drückte sie auf einen Schalter und erschrak, weil nicht, wie sie erwartet hatte, das Licht anging, sondern die
Rolläden mit einem lauten Surren nach oben gezogen wurden. Das helle Tageslicht fiel durch die große Panoramascheibe. Zuerst
schaute sich Manon die Bilder über dem Sofa an, dann ging sie zum Bücherregal und entnahm ihm mehrere Fotoalben. Sie setzte
sich in den verschlissenen, bequemen Ledersessel neben der Terrassentür und begann zu blättern. Bald war sie ganz vertieft
in das Leben der Familie, die auf den Fotos zu sehen war. Und immer spiegelte sich der dort abgebildete Gesichtsausdruck auf
ihrem eigenen Gesicht wider. Sah sie das Foto der lächelnden Frau, dann musste auch Manon unwillkürlich lächeln, schaute der
Junge finster in die Kamera, verdunkelte sich auch ihre Miene. Dabei fühlte sie weder Neid noch Mitleid, alles, was sie empfand,
war eine tiefe Neugier auf das unbekannte Leben dieser fremden Leute.
Plötzlich merkte sie auf.
Sie hatte etwas gehört.
Ein Geräusch an der Eingangstür.
Jemand hatte einen Schlüssel ins Schloss gesteckt.
|95| Acht
Der 8. August war Herbert Webers letzter Arbeitstag vor Antritt seiner sechswöchigen Kur. Weber war sechsundfünfzig Jahre alt, hatte
Herzrhythmusstörungen und fühlte sich seinem Job als Wachmann bei der Kelster-Sekuritas schon lange nicht mehr gewachsen.
Die Wahrheit war, er hatte diese Tätigkeit von Anfang an gehasst.
Er war im vorletzten Kriegsjahr in Halle an der Saale geboren worden, im Osten Deutschlands aufgewachsen, hatte in seiner
Geburtsstadt die Oberschule und später, nach seiner Zeit bei der Nationalen Volksarmee, in Leipzig die Universität besucht.
In der kleinen Stadt Köthen, berühmt dafür, dass Johann Sebastian Bach dort als Hofkapellmeister gewirkt und seine Brandenburgischen
Konzerte komponiert hatte, war Herbert Weber Lehrer für Sport und Polytechnik geworden. Er liebte seinen Beruf, die Schüler
mochten ihn, und da er weder sehr mutig war noch besonders viel Phantasie hatte, war er im Großen und Ganzen mit seinem Leben
zufrieden. Als bekannt wurde, dass er eine Beziehung zu einem seiner ehemaligen Schüler unterhielt, drängte man ihn, den Schuldienst
zu quittieren. Er bekam eine Anstellung als Hilfsbibliothekar in der Werksbücherei einer örtlichen Maschinenfabrik, die aber
1991 von einem Duisburger Großunternehmen aufgekauft und ein dreiviertel Jahr später geschlossen wurde. Wie so viele seiner
ehemaligen Kollegen sah er keine andere Möglichkeit, als in den Westen überzusiedeln und sich dort eine neue Arbeit zu suchen.
Auf eine Zeitungsannonce hin meldete er sich bei der Kelster-Sekuritas und wurde schon wenige Tage später zu einem Vorstellungsgespräch
gebeten. Weil er sich mit den Gepflogenheiten |96| des westlichen Berufslebens nicht auskannte und weil er sich nicht noch einmal der Schmach einer Entdeckung aussetzen wollte,
sagte er dem Personalchef sofort, dass er homosexuell sei. Der Mann hatte nur gegrinst und erwidert: «Was Sie sind, ist uns
völlig egal, uns interessiert nur, dass Sie ordentlich arbeiten.»
In den mehr als sieben Jahren seiner Arbeit als Wachmann hatte er gelernt, zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten zu funktionieren.
Aber zugleich spürte er, wie seine Erschöpfung von Jahr zu Jahr zunahm. Und er musste sich eingestehen, dass er sich bis heute
in Westdeutschland nicht wohl fühlte. Dass man sich damals im Osten in sein Privatleben eingemischt hatte, hatte ihn verletzt
wie nichts zuvor. Hier hingegen war alles gleichgültig. Er war glücklich oder unglücklich, er war krank oder
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