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Ein allzu schönes Mädchen

Titel: Ein allzu schönes Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Seghers
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sich Manon auf dem Frankfurter Lerchesberg der Rückseite eines großen
     Hauses. Sie war auf einer Bank am Waldrand aufgewacht, wo sie sich kurz zuvor hingelegt hatte. Sie erinnerte sich an nichts.
    Vielleicht wollte sie sich an nichts erinnern.
    Sie schaute lange in den Himmel, wo ein Bussard seine Kreise zog. Dann beobachtete sie ein Eichhörnchen, das über ihrem Kopf
     in den Ästen eines Baumes herumkletterte.
    Sie war müde. Sie schlief erneut ein und wachte wieder auf. Sie hatte Hunger, und sie fror. Sie zitterte am ganzen Körper.
     In ihrem Kopf war Nacht. Sie wusste nicht, wo sie war.
    Das Haar hing ihr wirr um den Kopf, ihre Kleider waren zerrissen und mit Flecken übersät. Es schien, als sei sie zu jenem
     Zustand zurückgekehrt, in dem sie vor über einem Jahr bei der Witwe Fouchard angekommen war.
    Vielleicht schien es nur so.
    Sie erhob sich von ihrer Bank.
    Hinter einem Baum versteckt, wartete sie, bis ein Spaziergänger mit seinem Hund hinter der nächsten Wegbiegung verschwunden
     war, dann stieg sie über den niedrigen Jägerzaun, lief an dem abgedeckten Swimmingpool vorbei über den kurz geschnittenen
     Rasen, betrat schließlich die Terrasse und versuchte, den Rolladen nach oben zu schieben. Als ihr das nicht gelingen wollte,
     ging sie um das Haus herum und versuchte |92| ihr Glück an den Fenstern des unteren Stockwerks, hatte aber auch dort keinen Erfolg.
    Schließlich hatte sie eine Idee. Sie rollte eine der großen Mülltonnen an die Rückwand der Doppelgarage, kletterte auf den
     Deckel der Tonne, hielt sich an der Regenrinne fest und zog sich, indem sie beide Füße gegen die Wand stemmte, auf das Flachdach
     der Garage. Dort legte sie sich auf den Bauch, robbte vorsichtig bis an den vorderen Rand und vergewisserte sich, dass man
     sie von der Straße aus nicht sehen konnte. Das Haus hatte zum Wald hin ein tief gezogenes, nicht sehr steiles Dach, und so
     konnte sie sich, auf dem Bauch liegend und sich an den Ziegeln festklammernd, Stück für Stück in Richtung der Dachluke vorarbeiten.
     Als sie dort angekommen war, lockerte sie einen der Ziegel und schlug die Scheibe des kleinen Fensters ein. Sie hielt einen
     Moment inne, lauschte, und als sie sicher war, dass niemand das Geräusch des klirrenden Glases gehört hatte, entfernte sie
     sorgfältig die Scherben aus dem Rahmen und ließ sich durch die Öffnung ins Innere des Hauses gleiten.
    Auf dem Dachboden fand sie nur einen Hometrainer, der lange nicht benutzt worden war, ein paar alte Matratzen, das verstaubte
     Gestell eines Kinderbettes, ein Regal mit alten Schuhen und ein weiteres mit Gläsern voller eingemachtem Obst. Da der Raum
     so niedrig war, dass sie nicht aufrecht stehen konnte, kauerte sie sich vor das Regal, öffnete ein Glas mit Birnen, trank
     den Saft aus und fischte sich eine Hälfte der süßen Früchte nach der anderen heraus. Mit dem Ärmel wischte sie sich über den
     Mund, dann klappte sie die hölzerne Bodenluke um, kletterte die steile Treppe hinab in die obere Wohnung und begann ein Zimmer
     nach dem anderen zu inspizieren.
    Sie kam in ein Jugendzimmer, wo sie sich sofort für einen kurzen Moment auf das Bett legte, in dem sie später schlafen |93| wollte. Sie durchwühlte die Schubladen des Schreibtischs, wo sie nichts fand, was sie gebrauchen konnte, öffnete den Schrank,
     sah aber sofort, dass dort nur die Kleidung eines Jungen aufbewahrt wurde. Vor dem Fenster stand ein Computer. Sie schaltete
     ihn ein, tippte einen Moment wahllos auf den Tasten des Keyboards herum, dann schaltete sie das Gerät wieder aus.
    Im benachbarten Schlafzimmer der Eltern hatte sie mehr Glück. Ein Drittel des riesigen Wandschrankes war für Hosen, Hemden
     und Anzüge reserviert, der Rest war gefüllt mit Röcken, Blusen und Kleidern. Sie wählte ein tiefrotes kurzes Kleid und eine
     leichte schwarze Lederjacke. Dann nahm sie eine Garnitur dunkelroter Seidenunterwäsche, suchte sich aus dem Schuhschrank ein
     Paar schwarze Sportschuhe und warf alles auf den Sessel vor der Kommode. Sie zog sich aus, knüllte ihre verdreckten Kleider
     zusammen und schob das Bündel unter das Ehebett.
    Dann lief sie über den Flur, suchte das Badezimmer und drehte an der Wanne das heiße Wasser auf. Sie kippte eine halbe Flasche
     Schaumbad hinein, setzte sich auf den Toilettendeckel und wartete, bis genügend Wasser eingelaufen war. Ihr Körper war mit
     Prellungen und Schürfwunden übersät. Nur ihrem Gesicht sah man nicht an, was geschehen

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