Ein allzu schönes Mädchen
anderen Neuankömmlingen am Kassenhäuschen an. Als sie an die Reihe kam, |108| bezahlte sie wieder mit einem Schein, und wieder ließ sie die Münzen liegen.
«So werden Sie es aber nie zu was bringen, mein Fräulein», sagte die dicke Kassiererin.
Manon verstand nicht, was mit dem Satz gemeint war. Sie lächelte die Frau an und wünschte ihr einen schönen Tag. Sie erinnerte
sich nicht, jemals zuvor so viele Menschen auf so engem Raum versammelt gesehen zu haben. Das bunte Gewimmel der Badegäste,
die Rufe und Schreie der Kinder, die Geräusche des Wassers, der Geruch von Chlor und Sonnenöl, von Schweiß und gebratenen
Würstchen verwirrte und erregte sie. Sie mochte den Anblick all der schönen und hässlichen halb nackten Körper, die sich auf
den Wiesen wälzten oder im Wasser planschten. Sie verstand nicht, was sie sah, aber es gefiel ihr. Sie schlenderte zwischen
den ausgelegten Badelaken umher und betrachtete ungeniert die Leute, die auf dem Bauch lagen und in einer Zeitschrift blätterten,
die sich gegenseitig ihre Rücken mit dicken Cremes einmassierten, die mit weißen Plastikgabeln in riesigen Schüsseln mit Kartoffelsalat
herumstocherten oder einfach mit geschlossenen Augen im Gras lagen und sich bräunen ließen. Sie schaute in die Gesichter.
Sie lachte, wenn sie andere lachen sah, und schrie erschrocken auf, als ein Junge seinem Vater einen kleinen Plastikeimer
voller Wasser von hinten über den Kopf goss.
Als sie über den Rand der Duschen balancierte und sich auf einen der Sprungblöcke setzte, um den Schwimmern zuzusehen, kam
ein junger Bademeister und ermahnte sie freundlich. Sie fragte, was sie falsch gemacht habe, und erhielt zur Antwort, dass
man den Schwimmbereich nur barfuß und in Badekleidung betreten dürfe.
Nach und nach gewöhnte sie sich an den Lärm und die Gerüche. Sie suchte sich einen der wenigen schattigen Plätze, legte sich
auf den Rücken unter eine Linde, lauschte, ohne wirklich |109| auf die Worte zu achten, noch eine Weile den Gesprächen ihrer Nachbarn, schaute über sich den schaukelnden Blättern zu, dann
schloss sie die Augen und schlief ein.
Am Abend zuvor war Georg Lohmann früh schlafen gegangen. Er hatte einen langen Tag hinter sich, war zwölf Stunden in der Redaktion
gewesen und hatte die meiste Zeit mit Vorbereitungen für seine Reise verbracht. Er hatte telefoniert, Faxe verschickt und
sich von der Archivarin ein Dossier mit Hintergrundmaterial für die Reportage zusammenstellen lassen. Er arbeitete für den
Reiseteil einer Hamburger Zeitung und sollte den Besuch des amerikanischen Präsidenten zum Anlass nehmen, einen Bericht über
Frankfurt und seine Hotels zu schreiben.
Lohmann war zum zweiten Mal verheiratet und hatte mit seiner Frau einen fünfjährigen Sohn. Vor drei Jahren hatten sie sich
im Alten Land südlich von Hamburg ein leer stehendes Bauernhaus gekauft, hatten es renoviert und waren froh, dass der Kleine
nicht in der Großstadt aufwachsen musste. Eigentlich hatten sie verabredet, es bei diesem einen Kind zu belassen, deshalb
war Heidi erstaunt, wie freudig ihr Mann die Nachricht aufgenommen hatte, als sie ihm vor zwei Wochen nach einem Arztbesuch
mitteilte, dass sie erneut schwanger sei. «Endlich», hatte er gesagt und ihr gestanden, dass er schon lange nach einem Grund
gesucht habe, weniger zu arbeiten und mehr Zeit für die Familie zu haben. Gleich am nächsten Tag war er zu seinem Ressortleiter
gegangen und hatte ihn gebeten, ihn zum Jahresende von seiner Stelle als Reporter zu entbinden und ihm stattdessen einen Posten
in der Redaktion zu geben. Lohmann war abends nach Hause gekommen, hatte zwei Flaschen Wein aus dem Keller geholt, dann hatten
er und Heidi bis in die Nacht zusammengesessen und Pläne für ihr neues Leben zu viert gemacht. Sie wollten |110| ein weiteres Kinderzimmer einrichten und vielleicht endlich auch den Stall wieder so weit in Stand setzen, dass sie ein paar
Tiere halten konnten.
Der Wecker klingelte um sechs. Georg hatte bereits gepackt. Er kochte Kaffee, nahm sich eine Tasse und goss den Rest für Heidi
in die Thermoskanne. Er deckte den Frühstückstisch, schrieb seiner Frau einen Gruß, schaute noch einmal in das Zimmer seines
Sohnes und küsste den schlafenden Jungen zum Abschied aufs Haar. Dann setzte er sich in seinen Wagen und fuhr zum Flughafen
nach Fuhlsbüttel. Er stellte das Auto im Parkhaus ab, gab seinen Koffer auf und saß eine halbe Stunde
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