Ein allzu schönes Mädchen
gesund, es gab
ihn oder gab ihn nicht – niemanden kümmerte es. Er hatte keine Freunde gesucht und infolgedessen auch keine gefunden. Er lebte
alleine in einem möblierten Zimmer, für das er viel zu viel Miete zahlte, aber weder brachte er die Energie auf, mehr Gehalt
zu fordern, noch sich eine andere Unterkunft zu suchen.
In den ersten Monaten seiner Zeit in Frankfurt war er gelegentlich durch die Bars im Bahnhofsviertel gezogen. Doch jedes Mal
hatte er am nächsten Tag das Gefühl, zu viel Geld ausgegeben zu haben für ein Vergnügen, das ihm, kaum dass es vorbei war,
entsetzlich schäbig vorkam. Inzwischen verbrachte er seine freie Zeit damit, dass er sich bei schönem Wetter in die S-Bahn setzte, in den Taunus fuhr und dort alleine spazieren ging. Wenn es regnete, blieb er in seinem Zimmer, setzte sich die Kopfhörer
auf, hörte Musik und bastelte an seinen Schiffsmodellen.
Viele seiner meist jüngeren Kollegen kamen wie er aus dem Osten, aber sie alle waren bestrebt, sich dem neuen Leben in Westdeutschland
anzupassen. Manche hatten bereits hier geheiratet |97| und Kinder bekommen, und einer von ihnen, obwohl fünfzehn Jahre jünger als Weber, war inzwischen sein Vorgesetzter geworden.
Er hatte angekündigt, «den Laden auf Vordermann» bringen zu wollen und die «Mannschaft entscheidend zu verjüngen». Diese Ankündigung
war es wohl, die Herbert Weber ahnen ließ, dass er auch in seinem Job als Wachmann bald zu den Verlierern gehören würde. Immer
wieder hatte ihn in den letzten Wochen ein stechender Schmerz in der linken Brusthälfte geweckt, und als der Arzt ihm dringend
eine «Auszeit» empfahl und ihm eine Kur verschrieb, war er froh gewesen, für sechs Wochen den freudlosen Trott seines Alltags
hinter sich lassen zu dürfen. Er wollte die Zeit nutzen, um Kraft zu sammeln – vielleicht für einen Neuanfang, jedenfalls
aber dafür, bei der Kelster-Sekuritas zu kündigen.
Er hatte seine Koffer bereits am Vorabend gepackt, war am Bahnhof vorbeigefahren, um eine Fahrkarte zu kaufen, und hatte sich
früh ins Bett gelegt, um seinen letzten Arbeitstag möglichst entspannt hinter sich zu bringen. Tatsächlich schlief er in dieser
Nacht so tief und fest wie schon lange nicht mehr. Um sechs Uhr stand er auf, trank seinen Tee, den die Zimmerwirtin ihm vor
die Tür gestellt hatte, zog seine Uniform an und fuhr mit der Straßenbahn zum Sitz der Wachfirma, um sich seinen Dienstplan
für den heutigen Tag abzuholen.
Die Kelster-Sekuritas hatte in einem Hinterhof im Gutleutviertel das kleine, reichlich vernachlässigte Nebengebäude einer
alten Fabrik und ein paar Parkplätze angemietet. Die Räume der Firma bestanden aus dem Büro des Geschäftsführers, einem Aufenthaltsraum
für die Angestellten und der Funk- und Telefonzentrale. Ein vierter Raum diente als Abstellkammer und Archiv. Weber grüßte
die mürrische Telefonistin, fragte, ob etwas Besonderes anliege, und machte eine Bemerkung über das Wetter. Dann ging er zu
seinem Fach, |98| nahm den Plan für den heutigen Tag, den Wagenschlüssel, das Funkgerät und das graue Kästchen mit den Schlüsseln für die Objekte,
die er zu kontrollieren hatte. Er überflog das DIN-A 4-Blatt , merkte, dass man ihm wieder drei Kontrollstationen mehr als üblich übertragen hatte, beschwerte sich aber nicht.
Die Kelster war ein vergleichsweise kleines Sicherheitsunternehmen, das hauptsächlich Privathäuser und kleinere Firmen betreute.
Webers Aufgabe bestand darin, ein Objekt nach dem anderen abzufahren und zu überprüfen, ob alles in Ordnung war. Seine heutige
Tour lag im Süden der Stadt und bestand hauptsächlich aus Einfamilienhäusern, einigen Gaststätten und Geschäften, ein paar
Kiosken und einer Tankstelle. In den Jahren, seit er diese Stelle angenommen hatte, war Weber nie in eine wirklich brenzlige
Situation geraten. Er hatte zwölf Einbrüche entdeckt, war ein paar Mal hinzugekommen, als man einen Ladendieb gestellt hatte,
und hatte einmal eine Gruppe von Jugendlichen vertrieben, die sich am Türschloss einer Bauhütte zu schaffen machte. Bei jedem
dieser harmlosen Ereignisse hatte sein Herz angefangen zu rasen, und jedes Mal hätte er am liebsten sofort gekündigt.
Herbert Weber stieg in seinen Dienstwagen, einen dunkelblauen Ford Escort, und fädelte sich am Baseler Platz in den Strom
der Autos, die über die Friedensbrücke auf die andere Seite des Flusses nach Sachsenhausen wollten. Der Himmel war
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