Ein allzu schönes Mädchen
er, der Polizist Robert Marthaler, sich einem Fremden beschreiben würde. Aber als er merkte,
dass er entweder lügen müsste oder dass seine Schilderung wenig schmeichelhaft ausfallen würde, brach er das Spiel ab.
Vielleicht sollte er in eines der türkischen Bekleidungsgeschäfte gehen, die es hier im Viertel gab, und sich einen neuen
Anzug anpassen lassen. Gleich jetzt. Aber nein, die Vorstellung, sich verschwitzt, wie er war, unwohl, wie er sich fühlte,
einem Fremden in Socken zu präsentieren, schreckte ihn. Seine Mutter hatte ihn gelehrt, dass es den Umgang der Menschen erleichterte,
wenn alle ein Minimum an Haltung bewahrten.
Während er noch seinen Gedanken nachhing, nahm er im Augenwinkel eine Bewegung wahr, die ihn aufmerken ließ. Vor ihm schlenderte
eine junge Frau über den Bürgersteig. Sie fiel ihm schon deshalb auf, weil sie es, im Gegensatz zu den meisten anderen Passanten,
nicht sehr eilig zu haben schien.
Sie trug ein beiges ärmelloses Kleid, ihre Arme und Beine |168| waren von der Sonne gebräunt, und das Haar hatte sie am Hinterkopf zu einem lockeren Knoten gebunden. Marthaler kam es vor,
als müsse er die Frau kennen, aber ihm wollte nicht einfallen, woher. Er betrachtete die Linie ihres Nackens und erinnerte
sich, wie oft er Katharina gebeten hatte, ihr Haar hochzustecken, damit ihr schöner Hals nicht verdeckt würde. Und wie Katharina
gelächelt und ihn gefragt hatte, ob sie sich die Haare abschneiden lassen solle. Für ihn, hatte sie gesagt, würde sie sich
sogar eine Glatze scheren lassen.
Ohne sich bewusst zu machen, was er tat, folgte er der Frau. Ihr Anblick gefiel ihm. Sie bog jetzt nach rechts in eine der
kleinen Seitenstraßen ab und schlug jene Richtung ein, die auch Marthaler nehmen wollte.
Endlich, als sie an einer Ampel stehen blieb und ihr Gesicht ein wenig zur Seite wandte, erkannte er zu seiner Überraschung
Tereza, die tschechische Studentin, mit der er sich im «Lesecafé» unterhalten hatte. Er rechnete nach; es war noch nicht einmal
dreißig Stunden her, dass sie ihm von ihrer Vorliebe für den spanischen Maler Goya erzählt und ihm durch die Glastür hindurch
nachgewunken hatte. Aber inzwischen war so viel passiert, dass Marthaler kaum Zeit gehabt hatte, auch nur an sie zu denken.
Umso erstaunter stellte er fest, wie groß seine Freude war, sie wieder zu sehen. Fast wäre er seinem Impuls gefolgt und hätte
sie zur Begrüßung umarmt. Aber dann dachte er an den Zustand seines Spiegelbildes, das ihm noch eben aus dem Schaufenster
entgegengeblickt hatte. Der Mut verließ ihn, und er verlangsamte seine Schritte. Er wollte nicht, dass sie ihn so sah. Und
fast war er froh, als sie endlich hinter einer Hausecke verschwand. Er blieb einen Moment stehen, und erst, als er sicher
war, dass sie ausreichend Vorsprung gewonnen hatte, ging er weiter.
Er erreichte das Mainufer, schaute nach rechts und nach |169| links, konnte Tereza aber nirgends mehr sehen. Er setzte sich auf eine Bank, griff in die Seitentasche seines Jacketts, zog
das Päckchen mit den Mentholzigaretten hervor und steckte sich eine an. Er war erleichtert. Womöglich hätte sie mit Befremden
auf ihn reagiert, vielleicht sogar mit Abwehr wie auf den Annäherungsversuch eines Fremden, der er ja auch wirklich für sie
war. Oder sie hätte ihn nur erstaunt angesehen. Jetzt war er froh, sich diese Enttäuschung erspart zu haben. Tief sog er den
Rauch seiner Zigarette ein. Er nahm sich vor, in den nächsten Wochen nicht ins «Lesecafé» zu gehen.
Auf einem der Lastkähne, die von Zeit zu Zeit langsam über den Main glitten, sah Marthaler, wie ein Mädchen sich zu einer
Musik bewegte, die er nicht hören konnte. Er beneidete das Kind um das bedenkenlose Glück, das in dem lautlosen Tanz zum Ausdruck
kam. Am liebsten wäre er dem Schiff auf dem Uferweg gefolgt, um dieses Bild noch eine Weile genießen zu können.
Plötzlich erschrak er. Jemand hielt ihm von hinten die Augen zu. Dann merkte er, dass es die Hände einer Frau waren. Natürlich
sollte er jetzt raten, wer sich von hinten an ihn angeschlichen hatte. Er tat, als müsse er überlegen, dann sagte er: «Tereza.»
Sie ließ ihn los, kam um die Bank herum und schaute ihn erstaunt an: «Wie konnten Sie wissen, dass ich es bin?»
Er wollte ihr nicht die Wahrheit sagen, wollte nicht gestehen, dass er sie bereits auf der Kaiserstraße gesehen hatte und
ihr dann gefolgt war. Also zuckte er nur mit den Schultern
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