Ein allzu schönes Mädchen
Zu- und Abneigung manchmal unentwirrbar
vermischten. Aber seine Erfahrung sagte ihm, dass dieser Fall anders lag. Zu deutlich waren der Schock und die Trauer der
Familienangehörigen gewesen, als er ihnen die Todesnachricht überbracht hatte. Und niemand, der einen Mord beging, würde so
offen und arglos seine Abneigung gegen das Opfer äußern, wie es der |162| Mann getan hatte, der heute Vormittag der Schwiegervater Bernd Funkes hätte werden sollen.
Marthalers Grübeleien wurden unterbrochen, als Elvira an die Tür klopfte. Sie streckte den Kopf herein und sagte, die Kollegen
seien jetzt wieder versammelt, nur Sabato habe sich geweigert, ein zweites Mal zum Rapport anzutreten.
«Schon gut», sagte Marthaler, «ich melde mich nachher bei ihm.»
Dann bat er die anderen hereinzukommen. Er hob die Hände zum Zeichen, dass er sich seiner Verfehlung bewusst war, dass sie
sich ihre Vorhaltungen sparen konnten.
«Ich weiß», sagte er, «dass mein Abgang vorhin nicht die feine Art war. Aber es war dringend. Und immerhin haben wir jetzt
den Namen des Opfers.»
Er teilte den anderen mit, was er in den letzten beiden Stunden erfahren hatte. Er schaute rundum in die Gesichter. Der Unmut
der Kollegen über sein plötzliches Verschwinden wich nur langsam dem Interesse an seinem Bericht.
«Ich nehme an, ihr habt euch das Dossier der Gerichtsmedizin bereits angesehen. Sabatos Vermutung hat sich also bestätigt.
Bernd Funke hatte kurz vor seinem Tod Geschlechtsverkehr. Mit einer Frau. Und wir dürfen wohl davon ausgehen, dass es sich
dabei nicht um seine Verlobte gehandelt hat. Es kommt jetzt alles darauf an, dass wir so rasch wie möglich die beiden Männer
und die junge Frau finden, mit denen er gesehen wurde. Und wir müssen sofort eine Fahndungsmeldung nach dem grünen Fiat Spider
rausgeben. Hat sich eigentlich der Vorbesitzer des Wagens gemeldet, wie hieß er doch gleich?»
«Gessner», sagte Petersen. «Jörg Gessner.»
Elvira, die mit ihrem Schreibblock in der Tür stand, schüttelte den Kopf. «Nein, bislang nicht.»
«Dann sollten wir sofort versuchen, ihn ausfindig zu machen. |163| Ich schlage vor, das übernehmen Manfred und Kerstin. Wenn ihr ihn habt, setzt ihn ruhig ein wenig unter Druck. Aber seid vorsichtig.
Ihr wisst, der Typ ist vorbestraft. Wir müssen herausfinden, ob er Funke kannte, ob sie vor dem Verkauf des Autos schon miteinander
zu tun hatten. Wir müssen so schnell wie möglich alles über das Opfer erfahren, über seine Gewohnheiten, seinen Umgang, seine
Freunde und Bekannten.»
«Wissen wir schon, was Funke von Beruf war?», fragte Kai Döring.
Marthaler verneinte. Döring zog die Brauen hoch, als habe er seinen Chef schon wieder bei einer Verfehlung erwischt.
«Entschuldigt, ich weiß, dass ich das gleich hätte fragen müssen, aber es war einfach noch keine Gelegenheit, die Angehörigen
ausführlich zu vernehmen. Ich hoffe, dass sich der Vater der Braut in Kürze bei mir meldet. Sollte das im Lauf der nächsten
Stunde nicht geschehen, werde ich ihn anrufen. Spätestens dann wissen wir mehr. Bis dahin möchte ich Kai und Sven bitten,
die Ochsentour zu übernehmen. Nehmt euch ein Foto des Toten und klappert die Siedlungen rund um den Stadtwald ab, fragt, ob
jemandem etwas aufgefallen ist, versucht herauszubekommen, welche Forstarbeiter sich während der Tatzeit im Wald aufgehalten
haben, und quetscht sie aus …»
Kai Döring und Sven Liebmann waren bereits aufgestanden.
«O. k., o. k.», sagte Döring. «Wir haben verstanden, Chef. Wir machen das schließlich nicht zum ersten Mal.»
«Ich wundere mich ein wenig», sagte Marthaler, «dass sich bislang keiner von Funkes Begleitern bei uns gemeldet hat. Ich habe
kein gutes Gefühl dabei.»
Kerstin Henschel runzelte die Stirn. «Du meinst, es könnte noch mehr passieren?»
|164| Marthaler rieb sich die Augen. Er wollte nicht spekulieren. «Wir wissen noch zu wenig. Wir müssen alle Möglichkeiten in Betracht
ziehen. Es könnte sein, dass Bernd Funke von einem seiner Begleiter ermordet wurde. Es wäre aber auch möglich, dass die drei
unbekannten Personen ebenfalls in Gefahr sind.»
Er wollte den Gedanken an ein weiteres Verbrechen nicht zulassen, aber es behagte ihm ganz und gar nicht, dass von den drei
Menschen, die zuletzt mit dem Opfer gesehen worden waren, noch keiner wieder aufgetaucht war.
«Ich weiß nicht», sagte er. «Vielleicht sollten wir auch die Ermittlungen nicht mit solchen
Weitere Kostenlose Bücher