Ein allzu schönes Mädchen
er die Tür. Schon halb im Hinausgehen drehte er sich noch einmal um. «Sie kommen bitte morgen
ins Präsidium, um das Protokoll zu unterschreiben.»
Dann ließ er Fellbacher sitzen, ohne sich von ihm zu verabschieden. Als er vor dem Haus stand, atmete er durch. Er war froh,
dieses Gebäude und diesen Mann hinter sich lassen zu können. Er schaute auf die Uhr. Es war fast Mittag, und es war sehr heiß.
Marthaler hatte Hunger, und er hatte Durst. Er überquerte den Parkplatz, lief ein wenig orientierungslos zwischen den zahllosen
Gebäuden der Universitätsklinik umher und stellte sich dann an eine Haltestelle, um auf die Straßenbahn in Richtung Bahnhof
zu warten.
Er sehnte sich danach, schwimmen zu gehen. Er erinnerte |178| sich, wie Katharina und er oft im Sommer an einen kleinen Badesee in den Wald geradelt waren. Sie hatten eine Kühltasche und
einen Picknickkorb mitgenommen und waren oft den ganzen Tag geblieben. Er sah Katharina vor sich, wie sie auf dem gegenüberliegenden
Felsen stand und ihm zuwinkte. Er hatte immer Angst gehabt, wenn sie von dort oben in das tiefgrüne Wasser gesprungen war,
aber sie hatte ihn nur milde verspottet wegen seiner Furcht. Mit angehaltenem Atem hatte er am Ufer gesessen und gewartet,
bis sie wieder auftauchte und lachend auf ihn zugeschwommen kam. So wie jetzt in seiner Erinnerung. Nur dass Katharinas Gesicht
zu seiner Verwunderung mit einem Mal die Züge von Tereza angenommen hatte.
|179| Zwanzig
Marthaler war in die Straßenbahn gestiegen und hatte sich auf einen der wenigen freien Plätze gesetzt. Ihm gegenüber saßen
zwei Schüler, zwölf, vielleicht dreizehn Jahre alt. Beide waren zu dick. Beide trugen sie weite, viel zu lange Hosen, die
am unteren Saum verschmutzt waren. Die Jungen unterhielten sich und tippten dabei auf ihren Handys herum. Sie waren kaum in
der Lage, vollständige Sätze zu formulieren. Jedes Mal, wenn einer von ihnen zwei oder drei sinnvolle Worte gesagt hatte,
folgte ein ‹Booah›, ein ‹Echt› oder ‹Voll cool›. Dabei sprachen sie die ganze Zeit über nichts anderes als über die Vorzüge
und Nachteile ihrer Mobiltelefone. Marthaler fragte sich, ob sie jemals etwas anderes lernen würden als diese Comic-Sprache.
Sie waren noch Kinder, aber ihre Phantasie war schon jetzt auf das Niveau eines billigen Zeichentrickfilms geschrumpft. Man
ließ sie verkommen. Man hatte sie bereits abgeschrieben. Niemand kümmerte sich um sie. Die öffentlichen Schulen hatten immer
weniger Geld zur Verfügung. Die große Masse der Schüler musste sich mit viel zu großen Klassen und viel zu schlecht ausgebildeten
Lehrern begnügen. Die Lust am Lernen wurde den Kindern genommen. Sie stumpften ab. Und was dann aus ihnen wurde, mochte Marthaler
sich nicht einmal vorstellen.
Er lehnte die Stirn an die Scheibe und versuchte an etwas anderes zu denken. Er versuchte, sich auf den Fall zu konzentrieren.
Sie waren ein ganzes Stück weiter gekommen. Sie wussten, wer der Tote war. Sie hatten Namen und Adresse eines seiner Begleiter
und den Vornamen des zweiten. Auch die Informationen, die ihnen Sabato am Morgen gegeben hatte, |180| waren wertvoll. Trotzdem hatte Marthaler nicht das Gefühl, dass ihnen bereits ein Durchbruch gelungen war. Das Ganze blieb
rätselhaft.
Mit einem Mal wurde Marthaler aus seinen Gedanken gerissen. Die Straßenbahn hatte abrupt gebremst, war dann ruckelnd noch
ein paar Meter mit quietschenden Rädern weitergefahren und schließlich endgültig zum Stehen gekommen. Einer der dicken Schüler
war von seinem Sitz gerutscht und hatte dabei sein Handy verloren. Er fluchte und hielt sich das Handgelenk. Marthaler wollte
ihm aufhelfen, aber der Junge wehrte ihn ab. Überall schimpften die Fahrgäste und krochen über den Boden, um ihre Habseligkeiten
wieder einzusammeln. Marthaler hatte sich am Kopf gestoßen. Er fasste sich an die Stirn und merkte erst jetzt, dass er blutete.
Er zog ein Taschentuch hervor und presste es auf die Wunde.
Er schaute aus dem Fenster. Die Straße war abgesperrt, überall am Rand der leeren Fahrbahn standen Streifenwagen und uniformierte,
bewaffnete Sicherheitskräfte. Ihm fiel ein, dass der amerikanische Präsident und der deutsche Bundeskanzler heute zum Empfang
bei der Frankfurter Oberbürgermeisterin geladen waren. Sie würden sich in das Goldene Buch der Stadt eintragen, ein paar vorgefertigte
Reden ablesen, ein paar Schnittchen essen und dann wieder
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