Ein allzu schönes Mädchen
meinst du nicht …»
Marthaler hob abwehrend die Hand. Er war wütend. «Ich meine, dass wir endlich Schluss machen müssen mit solchen Schweinereien.
Ich meine, dass wir diese Praktiken nicht dulden dürfen. Ein korrupter Polizist ist das Verabscheuungswürdigste, was ich kenne.
Du wirst ihn anzeigen. Und wenn du es nicht tust, werde ich es tun. Ich will, dass er auf der Stelle vom Dienst suspendiert
wird.»
|186| Er ließ Schilling stehen. Er war froh, dass er hart geblieben war. Dass er sich nicht auf einen Kompromiss eingelassen hatte.
|187| Einundzwanzig
Marthaler nahm die U-Bahn . Er fuhr mit der Linie 4 Richtung Seckbacher Landstraße und stieg an der Station Höhenstraße aus. Er lief den Alleenring in westlicher Richtung. Bevor
er nach rechts in die Burgstraße abbog, sah er ein Stück weiter auf der linken Seite den hellen Turm der Martin-Luther-Kirche.
Dort hatte damals der Trauergottesdienst für Katharina stattgefunden. Es war die Gemeinde ihrer Eltern, die ganz in der Nähe
wohnten. Drei-, viermal im Jahr trafen sie sich zufällig an Katharinas Grab. Marthaler nahm sich vor, die beiden zu besuchen,
wenn er diesen Fall hinter sich gebracht hatte. Er hatte es ihnen schon lange versprochen, aber immer war etwas dazwischengekommen.
Er wusste, dass sie nie über den Tod ihrer Tochter hinweggekommen waren. Sie würden mit ihrer Trauer sterben. Als er das letzte
Mal bei ihnen zum Kaffeetrinken war, hatten sie in der abgedunkelten Wohnung gesessen und die meiste Zeit geschwiegen. Anfangs
hatte Marthaler versucht, ein Gespräch in Gang zu bringen, dann hatte er aufgegeben. Er hatte Kuchen mitgebracht, von dem
niemand etwas gegessen hatte. Auch er hatte sich nicht getraut, ein Stück zu nehmen. Es wäre ihm wie Verrat vorgekommen. Nach
einer Stunde war er wieder gegangen. Es war, als hätten die beiden ihr Leben bereits beendet. Aber er wusste, dass sie sich
über seinen Besuch freuten.
Marthaler lief die Burgstraße hoch. Links lag das alte, rotgelbe Gebäude der Comenius-Schule mit der großen Uhr unter dem
Dach. Seit Jahren zeigte diese Uhr dieselbe Zeit an. Und |188| Marthaler fand, dass es etwas Beruhigendes hatte, dass wenigstens an einer Stelle dieser Stadt die Zeit stehen zu bleiben
schien. Der Unterricht war längst zu Ende, aber auf dem Schulhof spielten noch ein paar Grundschüler. Ihre bunten Schulranzen
hatten sie unter einer der alten Kastanien abgestellt. Noch hingen die Früchte in ihrer hellgrünen Schale an den Bäumen, aber
die Blätter zeigten bereits erste braune Flecken. Die gelben Kappen der Schüler mit dem Zeichen der Verkehrswacht leuchteten
in der Sonne. Es tat Marthaler gut, die hellen Kinderstimmen zu hören.
Auf der anderen Straßenseite gegenüber der Schule befand sich ein grauer, lang gestreckter Wohnblock mit sechs Eingängen.
An einer der Seitenwände des Hauses sah man ein riesiges Bild. Es zeigte drei Zimmerleute bei der Arbeit. Sie waren muskulös
und hatten kantige, harte Gesichter. Unter dem
Bild stand die Zahl 1937, das Jahr, in dem das Haus erbaut worden war.
Marthaler kannte den Wohnblock. Vor Jahren hatten sie hier einen Mann verhaftet, der verdächtigt wurde, im Laufe weniger Monate
mehrere Obdachlose mit einem schweren Hammer erschlagen und einen weiteren lebensgefährlich verletzt zu haben. Er hatte auf
sie eingeschlagen, während sie im Freien schliefen. Damals hatte Reiling noch gelebt. Er war Chef der Mordkommission gewesen
und hatte die Ermittlungen geleitet. Als der erste Mord geschah, waren sie völlig ratlos. Sie vermuteten ein persönliches
Motiv und durchforschten das gesamte Umfeld des Opfers, ohne einen Schritt weiter zu kommen. Als man den nächsten Toten mit
eingeschlagenem Schädel auf einer Parkbank in der Nähe des Scheffelecks gefunden hatte, nahmen sie an, dass die Morde politisch
begründet sein könnten. Sie durchkämmten die rechtsradikale Szene der Stadt, führten endlose Befragungen durch, überprüften
Alibis, nahmen schließlich einen Verdächtigen fest, den sie aber |189| bald darauf wieder laufen lassen mussten. Sie kamen nicht weiter. Reiling gab Anweisung, sämtliche Parks und öffentlichen
Gartenanlagen der Stadt zu überwachen. Nacht für Nacht patrouillierten zahllose Streifenpolizisten auf den Wegen, versteckten
sich hinter Bäumen und nahmen die Personalien von einsamen Spaziergängern und Liebespaaren auf. Sie wussten, dass sie einen
solchen Aufwand nicht
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