Ein allzu schönes Mädchen
verschwinden. Und dafür legte man die halbe Stadt lahm.
Sie warteten. Die Hitze und der Gestank in dem Waggon waren unerträglich. Die Leute stöhnten. In den umliegenden Straßen stauten
sich die Autos. Ab und zu hupte einer der Fahrer, dann noch einer, bis ein regelrechtes Hupkonzert ertönte. Dann wurde es
wieder still. Sie hatten eingesehen, dass ihr Protest wirkungslos blieb.
Endlich gab der Straßenbahnführer die Verriegelung der Türen frei. Einige der Fahrgäste stiegen aus, aber selbst als Fußgänger
durften sie die Absperrungen nicht passieren.
|181| Eine alte Frau war ohnmächtig geworden. Jemand rief nach einem Arzt. Kurz darauf kamen zwei Sanitäter, hoben sie auf eine
Trage und brachten sie weg.
Marthaler überlegte kurz, ob er ebenfalls aussteigen und versuchen sollte, die Mainbrücke zu passieren, um zu Fuß ins Präsidium
zu laufen. Ihn würde man ja wohl kaum aufhalten. Dann entschied er sich zu warten. Er hatte keine Lust, sich auf Diskussionen
mit den uniformierten Kollegen einzulassen.
Aus der Ferne hörte man das Geknatter eines Hubschraubers. Das Geräusch wurde lauter. Schließlich näherten sich noch ein zweiter
und ein dritter Helikopter, die jetzt tief über den Dächern der Häuser kreisten und das Laub der Bäume am Mainufer durcheinander
wirbelten. Die Fahrbahn war noch immer leer.
Endlich vernahm man die Sirenen der Polizeieskorte. Fünf Motorräder, die wie ein Pfeil formiert waren, sausten über die Straße.
Ihnen folgten in hohem Tempo einige Streifenwagen und zivile Sicherheitsfahrzeuge. Dann kamen eine Reihe schwarzer Limousinen
und schließlich, im selben mörderischen Tempo, die großen, gepanzerten Wagen der beiden Staatsoberhäupter, die an den aufgepflanzten
Standarten zu erkennen waren.
Und vielleicht saßen weder der Kanzler noch der Präsident hinter den getönten Scheiben. Marthaler stellte es sich vor. Es
war allgemein bekannt, dass man oft Doubletten der Staatskarossen durch die Straßen chauffierte, um mögliche Attentäter in
die Irre zu führen. Vielleicht hatten die beiden Regierungschefs den Römer längst über einen anderen Weg erreicht. Vielleicht
saßen sie längst bei der Bürgermeisterin im Sessel, tranken Sekt und ließen Berge von Lachsschnittchen einfach unbeachtet
stehen und vertrocknen.
Marthaler dachte daran, dass der Kanzler erst kürzlich auf die faulen Arbeitslosen geschimpft hatte und dass es schon |182| wieder Pläne gab, die Sozialhilfe zu kürzen. Was dachten wohl die Stadtstreicher, die im Sommer dort unten am Mainufer wohnten,
über den Pomp, mit dem sich hier oben die gewählten Volksvertreter feierten? Dachten sie überhaupt etwas? Oder würden sie
sich, wenn man ihnen ein Fähnchen in die Hand drückte, ebenfalls jubelnd an den Straßenrand stellen?
Sein Vertrauen in die Opfer hatte Marthaler längst verloren. Zu oft hatte er erfahren, dass diejenigen, denen man die Butter
vom Brot nahm, ihren Peinigern auch noch applaudierten. Ausgerechnet die Schwächsten plädierten für eine Politik der Stärke.
Ihre Armut hatte sie hart und dumm gemacht. Und immer fand sich eine neue Gruppe, der sie die Schuld gaben für ihre eigene
Lage. In den sechziger Jahren waren es die Italiener gewesen, dann die Türken, später die Asylbewerber und immer mal wieder
auch die Juden.
Auch in den Reihen der Polizei gab es Kollegen, die so dachten und die mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg hielten. Einmal
war Marthaler während eines Gesprächs in der Kantine böse geworden, als jemand einen Judenwitz erzählte. Ein jüngerer Kollege
hatte ihn angegrinst und gesagt: «Ach, der gute Robert, immer politisch korrekt.» Es war einer der Momente gewesen, in denen
Marthaler fast die Beherrschung verloren hatte. Er hatte Lust gehabt zuzuschlagen. Stattdessen war er aufgestanden und wortlos
gegangen.
Er schwitzte immer noch, als er endlich am Bahnhof ausstieg. Die Limousinen waren an ihnen vorbeigerauscht, kurz darauf war
alles vorbei gewesen wie ein seltsamer Spuk. Straßenbahnen und Autos durften wieder fahren. Die Fußgänger konnten wieder ihrer
Wege gehen.
Marthaler ging in einen der kleinen türkischen Imbissläden und bestellte eine Dose Cola und einen Döner Kebab. Er trank einen
großen Schluck, dann biss er in das gefüllte Fladenbrot. |183| Das Fleisch war viel zu fett und noch halbroh. Fast augenblicklich wurde ihm schlecht. Er schaute den Mann, der ihn bedient
hatte, an, aber statt
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