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Ein allzu schönes Mädchen

Titel: Ein allzu schönes Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Seghers
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Schreibtisch fand Marthaler eine dicke Akte über Jochen Hielscher. Elvira hatte alles Material zusammengesucht,
     das sie in den Polizeiunterlagen hatte finden können. Wie es aussah, war in Hielschers kurzem Leben alles schief gegangen,
     was in einem Leben nur schief gehen konnte. Sein Vater war unbekannt, die Mutter hatte ihn kurz nach der Geburt in ein Kinderheim
     gegeben. Er war zu einer Pflegefamilie gekommen, die ihn mit fünf Jahren erneut dem Jugendamt übergeben hatte. Es folgten
     verschiedene Heime, aus denen der Junge immer wieder ausgerissen war. Als er volljährig wurde, hatte er bereits drei Haftstrafen
     in Jugendstrafanstalten hinter sich. Es gab kaum ein Delikt, das er nicht begangen hatte: Autodiebstahl, Körperverletzung,
     Nötigung, Einbruch, Drogenhandel, Erpressung. Schon als dreizehnjähriger Junge hatte er in einem dichten Gebüsch am Mainufer
     mit vorgehaltenem Messer eine Schülerin gezwungen, sich vor ihm auszuziehen.
    Marthaler blätterte die Akte durch. Es war einer jener Lebensläufe, denen er bereits allzu oft begegnet war. Angesichts dieser
     Geschichte, dachte Marthaler, war das Ende des Mannes kaum verwunderlich. Zuletzt war Jochen Hielscher dabei erwischt worden,
     wie er in ein kleines Einfamilienhaus am Röderbergweg eingebrochen war. Wie sich herausstellte, war der Besitzer des Hauses
     einer seiner ehemaligen Bewährungshelfer. Hielscher wurde zu einer weiteren Haftstrafe verurteilt und war erst wenige Wochen
     vor seinem Tod aus |269| dem Gefängnis entlassen worden. Als letzter Wohnsitz stand in den Unterlagen ein Männerwohnheim in der Nähe des Bahnhofs.
     Einer handschriftlichen Notiz konnte Marthaler entnehmen, dass Elvira bereits mit dem Heimleiter gesprochen hatte. Demzufolge
     hatte sich Hielscher zwar angemeldet und hatte dort auch einmal übernachtet, war dann aber nicht mehr aufgetaucht. Sein weiterer
     Aufenthalt galt als unbekannt.
    Marthaler war ratlos. Er wusste nicht, was er mit dieser Menge von Informationen anfangen sollte. Es gab zahllose Menschen,
     die im Lauf der Jahre unangenehme Bekanntschaft mit Jochen Hielscher gemacht hatten. Es würde womöglich Monate dauern, herauszufinden,
     ob darunter jemand war, der einen Grund und Gelegenheit hatte, ihn umzubringen. Womöglich musste auch diese Arbeit noch getan
     werden. Resigniert klappte Marthaler die Akte zu. Wenigstens wollte er gleich Elvira bitten, den Wohnsitz von Hielschers Mutter
     zu ermitteln. Immerhin bestand eine kleine Chance, dass diese wieder Kontakt zu ihrem Sohn aufgenommen hatte und ihnen weiterhelfen
     konnte.
     
    Es klopfte an Marthalers Tür. Elvira steckte den Kopf herein.
    «Robert, entschuldige die Störung. Hier ist ein junger Mann, der behauptet, mit dir verabredet zu sein.»
    «Ein junger Mann? Oh verflixt, das hatte ich ganz vergessen.»
    Marthaler stand auf. Dann sah er das freundliche Gesicht von Paola Gazettis Neffen. «Guido   … nicht wahr? Kommen Sie. Vielen Dank, dass Sie sich die Mühe gemacht haben. Ich bringe Sie gleich zu unserem Porträtspezialisten.»
    Das, was im Volksmund «Phantombild» hieß, wurde in der Fachsprache der Kriminalpolizei «subjektives Porträt» genannt. Das
     Bundeskriminalamt hatte zur Erstellung solcher |270| Porträts in den letzten Jahren ein umfangreiches Computerprogramm mit dem Namen I.S.I.S. entwickelt. Die Abkürzung stand für
     «Interaktives System zur Identifizierung von Straftätern». Es enthielt zirka 1500   Fotos verschiedener Menschen und Menschentypen. Diese Fotos wurden segmentiert, und die einzelnen Segmente – bestehend aus
     Kopfform, Ohren, Stirn, Nase, Brauen, Mund, Kinn, Frisur und Augen – konnten aufgrund der Beschreibung des Zeugen beliebig
     neu zusammengesetzt werden. So entstand am Ende zwar nicht das individuelle Foto eines Verdächtigen, in den meisten Fällen
     aber immerhin ein Bild, das dem Typus der gesuchten Person sehr nahe kam.
    «Versuchen Sie, sich so genau wie möglich zu erinnern», sagte Marthaler. «Es ist sehr wichtig, dass wir die junge Frau finden.»
    «Ist sie denn verdächtig?», fragte Guido.
    «Wir können es nicht ausschließen. Möglicherweise ist sie nur eine Zeugin. Vielleicht ist sie aber auch in Gefahr. Jedenfalls
     kommt alles darauf an, dass wir sie sehr rasch identifizieren. Verstehen Sie bitte, dass ich Ihnen mehr nicht sagen kann.»
    Im Treppenhaus begegnete ihnen Herbert Weber, der von einem Streifenwagen aus der Klinik in Bad Nauheim abgeholt worden war.
     Marthaler

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