Ein allzu schönes Mädchen
fragte, ob sie hier wohne. Er
nannte den Namen Manon, aber einen anderen Nachnamen. Ich habe dem Mann gesagt, dass wir keine Auskunft über unsere Gäste
geben und dass es darüber hinaus zu früh sei, jemanden zu stören.»
«Was war das für ein Mann?», wollte Georg wissen. «Was wollte er?»
«Ich habe ihn gebeten, mir eine Telefonnummer oder seinen Namen zu hinterlassen, aber er sagte nur, er würde sich wieder melden.
Ich hoffe, ich habe keinen Fehler gemacht.»
«Nein», sagte Georg. «Schon gut. Sie haben alles richtig gemacht.»
|261| Neunundzwanzig
Marthaler fühlte sich so frisch und entspannt wie schon lange nicht mehr. Er hatte fast zehn Stunden geschlafen. Er schaute
auf die Uhr und überlegte, ob er zum Frühstücken ins «Lesecafé» gehen sollte. Aber dafür würde die Zeit nicht reichen. Nachdem
er geduscht und sich angezogen hatte, ging er in die Küche, stellte den Backofen an, legte zwei Tiefkühlbrötchen hinein, kochte
Espresso und setzte sich an den Tisch. Er nahm ein Blatt Papier, einen Stift und begann zu überlegen. Es war nicht viel, was
er aufschrieb. Als er fertig war, standen nur ein paar wenige Stichworte auf seinem Zettel, aber nun hatte er einen Plan für
den Tag.
Bevor er das Haus verließ, raffte er seine schmutzigen Kleider zusammen und stopfte sie in einen Wäschesack. Das Bündel geschultert,
trat er auf die Straße. Pfeifend lief er den Großen Hasenpfad hinunter. Auf der Mörfelder Landstraße schwenkte er nach links.
Hundert Meter weiter betrat er eine Reinigung und gab seine Kleidung ab. Dann ging er auf die andere Straßenseite und wartete
auf die Straßenbahn.
Ein paar Stationen weiter stieg er aus und ging den restlichen Weg zu Fuß. Als er das Zentrum der Rechtsmedizin erreicht hatte,
merkte er, dass sein frisches Hemd bereits wieder verschwitzt war. Er klopfte an der Tür der Empfangssekretärin, erhielt aber
keine Antwort. Er drückte die Klinke und ging hinein. Die Sekretärin sah ihn aus geröteten Augen an.
«Entschuldigung», sagte Marthaler, «ich möchte zu Professor Prußeit. Ist er aus dem Urlaub zurück?»
Die Frau brach in Tränen aus. In der rechten Hand hielt sie ein völlig durchnässtes Taschentuch. Statt einer Antwort |262| brachte sie nur ein klägliches Schluchzen hervor. Marthaler griff in die Tasche seines Jacketts und reichte ihr eine Packung
Papiertaschentücher. Als sie sich ein wenig gefangen hatte, erfuhr Marthaler, was passiert war. Sie hatte am Abend zuvor die
Nachricht erhalten, dass Prof. Prußeit auf der Rückreise von seinem Urlaubsort in den griechischen Bergen verunglückt war.
Er hatte versucht, mit seinem Pkw einem entgegenkommenden Lastwagen auszuweichen, war dabei von der Fahrbahn abgekommen und
einen Abhang hinuntergestürzt. Seine Frau war auf der Stelle tot gewesen, er selbst lag mit schweren Verletzungen im Krankenhaus.
Wann er transportfähig sein würde, war völlig ungewiss. Ebenso, ob er je wieder in seinem Beruf würde arbeiten können.
Marthaler musste sich setzen. Er kannte Prußeit nicht besonders gut, aber immerhin schon seit sehr vielen Jahren, seit er
selbst bei der Frankfurter Mordkommission angefangen und seinen ersten Fall betreut hatte. Der Pathologe hatte etwa zur gleichen
Zeit seine Stelle in der Rechtsmedizin angetreten. Sie hatten häufig miteinander zu tun gehabt und waren in der Anfangszeit
sogar ein paarmal zusammen in eine der Apfelweinwirtschaften in der Textorstraße gegangen. Allerdings hatten sie rasch gemerkt,
dass ihre Interessen zu unterschiedlich waren, als dass sie sich ernsthaft hätten miteinander befreunden können. So war ihr
Kontakt in der Folgezeit wieder auf das Berufliche beschränkt geblieben. Dennoch mochten sie einander, hatten Respekt vor
der Kompetenz des jeweils anderen und waren sich, wo immer es ging, behilflich. Für Marthaler gehörte Prußeit zu den fünf,
sechs Personen, von denen er wusste, dass er sich immer auf sie und ihr Urteil verlassen konnte. Jetzt war er nicht mehr da
und würde vielleicht nie mehr wiederkommen. Marthaler hatte das Gefühl, dass wieder einer der wenigen Fäden, die ihn noch
mit seinem Beruf verbanden und die ihn durchhalten ließen, gekappt worden war.
|263| Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er fühlte sich hilflos. Er bat die Sekretärin, ihn anzurufen, wenn sie etwas Neues über
Prußeits Gesundheitszustand erfuhr. Er fragte, ob Dr. Herzlich auch weiterhin Prußeit vertreten
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