Ein allzu schönes Mädchen
gestreckt. Seine großen Hände
lagen reglos auf der Tischplatte.
Zum ersten Mal hatte einer von ihnen das Wort «Freund» ausgesprochen. Und zum ersten Mal ging das, was sie einander zu sagen
hatten, über den Austausch von Rezepten und über das Geplänkel zwischen guten Kollegen hinaus. Beide spürten, dass ihre Beziehung
an einem Wendepunkt angekommen war.
Marthaler öffnete die oberste Schublade seines Schreibtischs und nahm das Foto Hendrik Plögers heraus, das Schilling in der
Wohnung des jungen Mannes sichergestellt hatte. Marthaler stand auf und legte die Aufnahme vor Sabato auf den Tisch.
«Hier», sagte er, «das ist der Junge, bei dem wir den kleinen Kater gefunden haben, der jetzt in deinem Labor herumturnt.
Ich hoffe sehr, dass du das Kätzchen behalten kannst. Aber noch mehr hoffe ich, dass wir diesen Jungen lebend und gesund wieder
finden.»
Auf dem Foto war ein sommersprossiger junger Mann mit kurzen blonden Locken zu sehen. Er lachte in die Kamera, und sein Gesicht
zeigte einen Ausdruck zwischen kindlicher Freude und schelmischer Belustigung.
Sabato hob beide Hände und verdrehte die Augen. Marthaler kam es vor, als würde sich der Kriminaltechniker über ihn lustig
machen.
|274| «Ich weiß beim besten Willen nicht, was es da zu grinsen gibt», sagte er.
«Nichts, nichts», sagte Sabato beschwichtigend. «Ich grinse nicht, ich lächle. Nur, mein lieber Mann, du fährst hier Geschütze
auf wie ein amerikanischer Staranwalt in seinem Schlussplädoyer. Aber da wir nun das Wahrheitsspiel spielen, darf ich vielleicht
auch mal etwas sagen. Ich weiß nicht, ob es dir klar ist: Aber auch dein Selbstbild scheint mir seit einiger Zeit nicht mehr
ganz mit der Wirklichkeit übereinzustimmen. Du läufst die meiste Zeit wie ein Trauerkloß durch die Gegend und willst deiner
Umgebung weismachen, dies sei ein Ausdruck deiner Ernsthaftigkeit.»
Sabato war jetzt aufgestanden und hatte sich ans Fenster gestellt. Er sprach weiter, ohne Marthaler anzusehen. «Du bist stur
und humorlos, und wenn du nicht aufpasst, wirst du binnen kürzester Zeit ein verschrobener alter Kauz, der niemanden versteht
und der von keinem mehr verstanden wird.»
Da war es wieder. Ein alter Kauz. Marthaler erinnerte sich an das Gespräch, das er vor einigen Tagen mit Petersen geführt
hatte.
«Außerdem, mein Lieber», setzte Sabato seine Tirade fort, «wird es höchste Zeit, dass du dir wieder eine Frau suchst. Und
bitte, komm mir jetzt nicht mit Katharina. Ich kannte sie nicht. Aber ich glaube dir sofort, dass sie die beste Frau der Welt
war und dass du nie wieder eine solche finden wirst. Aber darauf kommt es gar nicht an. Vielleicht findest du ja die zweitbeste
Frau, die auf der Suche nach dem zweitbesten Mann der Welt ist. Und die hätte dir dann bestimmt heute Morgen gesagt, dass
du noch Rasierschaum hinter dem rechten Ohr hast.»
Marthaler war perplex. Mit diesem Echo hatte er nicht gerechnet.
«Im Übrigen», beendete Sabato seine Rede, «hat es mich |275| gefreut, dass du mich deinen Freund genannt hast. Und vielleicht können die beiden Freunde jetzt endlich anfangen zu arbeiten.»
«Du meinst …» Marthaler war aufgestanden, um sich im Spiegel zu betrachten und sein Ohr zu säubern.
«Ich meine», schnitt ihm Sabato das Wort ab, «dass ich vorhin Unsinn erzählt habe. Dass ich meiner eigenen Großmäuligkeit
auf den Leim gegangen bin, als ich über mich selbst gesprochen habe. Es tut mir Leid. Und ich meine, dass wir jetzt darüber
reden sollten, was am Montag im Stadtwald passiert sein könnte.»
Marthaler brauchte einen Moment, um sich zu fangen. Sosehr ihn Sabatos Selbstkritik freute, so sehr war er doch von dessen
Gegenangriff überrascht worden. Er ging nach draußen, um jedem einen doppelten Espresso zu machen. Er stellte eine der Tassen
vor Sabato auf den kleinen Besprechungstisch und setzte sich auf den freien Platz gegenüber.
«Vielleicht stimmt es, was du sagst. Ich bin ein alter Kauz, der seinen Beruf an den Nagel hängen sollte.»
«Jetzt lass mal gut sein», erwiderte Sabato. Seine tiefe Stimme hatte jeden Klang von Ironie verloren. «Darüber können wir
ein andermal weiterreden. Jetzt sollten wir endlich zur Sache kommen.»
«Du hast Recht. Dann lass mich zusammenfassen, was wir wissen.» Aber kaum hatte er angefangen zu reden, merkte Marthaler,
dass es ihm nicht behagte, auf einem Stuhl zu sitzen. Er erhob sich und begann in dem kleinen Büro
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