Ein Alptraum für Dollar
Annie hat viel eingepackt: Ihre dicken Wörterbücher, all ihre Notizen, angefangene Manuskripte. Sie will noch den Roman fertig übersetzen, an dem sie schon seit Monaten arbeitet. Das heißt, sie will es wenigstens versuchen... mal sehen!
»Kennen Sie sich hier aus? Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen ein gutes Hotel empfehlen.«
»Sehr liebenswürdig von Ihnen, Monsieur, aber ich weiß schon, wohin ich gehe. Vielen Dank noch mal. Au revoir... merci.«
Ein mit Algengeruch gesättigter Windstoß fegt über den beinahe leeren Platz. Annie schlägt den Kragen ihres Regenmantels hoch. Sie kennt den Weg. Sie braucht nur immer gegen den Wind zu laufen, bis zum Strand, bis zum Hotel Neptun, gleich bei der Hafenmole. Es ist ein großes weißes Gebäude, geziert mit Fenstervorsprüngen und Arkaden — typisch im Stil der dreißiger Jahre. In dem Caféraum sitzen nur zwei Gäste, junge Burschen aus dem Dorf mit hohen schwarzen Gummistiefeln, dunkelblauen Matrosenblusen und gelbem Ölzeug. Sie sind braungebrannt von der Sonne und dem salzigen Meerwind, und der morgendliche Calvados — der berühmte Apfelschnaps der Gegend — verleiht ihnen dazu auch gesunde, rote Wangen!
Die Wirtin begrüßt Annie, schaut auf ihren Koffer und nimmt einen Schlüssel vom Brett:
»Zimmer 7 — Bleiben Sie lange?«
»Das weiß ich noch nicht. Aber ich hätte gern Zimmer 14, wenn es geht, Es wäre mir sehr wichtig...«
»Gut, das geht in Ordnung. Aber ich muß es für Sie herrichten lassen. Es wird etwa eine Stunde dauern. Darf ich Ihnen etwas servieren, bis es soweit ist?«
Annie setzt sich an den schönen großen Tisch in der leeren Veranda, von dort hat man den schönsten Blick zum Meer. Die Flut steigt gerade, und ihr zu Ehren wirft der Ärmelkanal hohe bleigraue Wellen an den Strand.
Sturmböen treiben Gischtstreifen von den überschlagenden Wellen hoch. Schwärme von aufgeschreckten Möwen fliegen kreischend über die glitschigen schwarzen Felsen, die gleich ganz von der Flut überschwemmt werden.
Annie versucht sich vorzustellen, wie ihre letzte Welle aussehen wird. Die letzte Welle, die mit ihr rollen wird an dem Tag, den sie bestimmen wird... in dem Augenblick, wo sie entscheiden wird.
»Ja, ich werde entscheiden! Es ist ein großartiges Gefühl, das zu wissen. Ich werde mir Zeit lassen, aber jetzt bin ich Herr über meine Zeit! Ich werde die Krankheit nicht Herr über mich werden lassen. Ich nehme mir endlich die Freiheit zu entscheiden!«
Für Annie ist das ein völlig neues Gefühl. Sie hat so wenig in ihrem Leben selbst entschieden.
»Immer war ich wie ein Strohhalm auf dem Wasser: Ebbe und Flut, Kommen und Gehen, tagein, tagaus. Ich bin niemals untergegangen, gut, aber ich habe auch keinen Hafen gefunden.«
»Ihr Zimmer ist fertig, Madame.«
Ein junges Ding, das wie Miou-Miou aussieht — widerspenstiges Haar und ein mürrisches kleines Gesicht —, hebt eifrig den schweren Koffer hoch und trippelt nach oben. Bei jedem Schritt droht der enge schwarze Rock, in den sich das Zimmermädchen hineingezwängt hat, aus den Nähten zu platzen. Dazu trägt es einen türkisfarbenen Pullover mit tiefem V-Ausschnitt im Rücken und flache Ballerina-Schuhe. »Komisch«, denkt Annie, »vor fünfundzwanzig Jahren sah ich genauso aus! Auch die Mode kommt und geht wie Ebbe und Flut. Nur haben wir uns damals die Haare toupiert wie Brigitte Bardot. Wie oft hat es deswegen Krach mit Mama gegeben!«
Wie lange schon hat Annie nicht mehr gewagt, an ihre Mutter zu denken... Denn jedesmal, wenn sie das tut, sieht sie das allerletzte Bild von ihr: weiß und traurig. Weißer und trauriger denn je, mit gekreuzten Händen auf der Brust, endgültig unerreichbar. Endgültig abgeschirmt von dem, was Annie ihr so gern ins Gesicht gesagt hätte. Mit ihrer Mutter konnte sie nie reden!
»Madame, hier ist es!«
In ihre Gedanken versunken war Annie auf der Treppe stehengeblieben, ohne es zu merken. Das Mädchen ruft sie, ein wenig ungeduldig:
»Sie wollten doch das Zimmer 14, ja? Nun, hier ist es! Wir haben es extra für Sie hergerichtet. Ich hab’s gemacht. Genauso gründlich wie für die Saison. Um diese Zeit machen wir es sonst nie auf!«
Annie gibt ihr ein gutes Trinkgeld: 50 Francs! Die Kleine kann es kaum fassen — sie hatte höchstens mit 10 Francs gerechnet. >Also... mit der stimmt was nicht... aber mir soll’s recht sein!< Und sie rennt fröhlich die Treppe hinunter.
Jetzt steht Annie endlich allein in dem Zimmer, in ihrem Reich. Sie geht
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