Ein Alptraum für Dollar
1984, nicht wahr? Nun, das Mädchen, das ich liebte, meine Verlobte, ist 1901 gestorben. Jeder Tag seit diesem 6. Juni 1901 ist für mich ein Tag ohne sie gewesen. Wir haben so wenig voneinander gehabt. Haben Sie bemerkt, daß ich meinen linken Arm nicht bewegen kann?«
»Nein.«
»Schön. Und das habe ich seit 1914 — seit Anfang des Ersten Weltkrieges. Aber es hat mich nicht daran gehindert, mit den Damen Walzer zu tanzen! Schauen Sie, Annie, die Menschen, die Sie lieben, die Sie geliebt haben, sie leben noch in Ihrem Herzen. Versuchen Sie, sich an die schönen Zeiten zu erinnern. Und Sie werden bald merken, daß nicht unbedingt die anderen schuld an der Entfremdung gewesen sind. Sie, Annie, Sie haben es zugelassen, daß diese Augenblicke und Erinnerungen Ihnen fremd geworden sind — obwohl sie Ihnen nur allein gehören! Wenn man dreiundvierzig Jahre ist, liegt Kalifornien nicht am Ende der Welt! Fliegen Sie zu Ihrer Tochter und zu Ihrer Enkelin — einfach so, ohne Voranmeldung! Und wenn die Tür aufgeht, dann lächeln Sie nur. Sie werden etwas Wunderschönes entdecken: Wer lächelt, wird wieder angelächelt. Die anderen sehen immer nur das, was man sie sehen lassen will. Es ist nur eine Frage der Übung, Annie. Üben Sie das Lächeln!«
Da bricht Annie gänzlich zusammen:
»Aber Monsieur Dolbois, es ist zu spät. Ich werde sterben!«
Der Greis bleibt eine Weile still, dann sagt er sanft, doch ohne Traurigkeit:
»Und ich, kleine Annie, halten Sie mich für unsterblich? Seit dreißig Jahren bin ich jeden Augenblick darauf gefaßt, meine letzte Stunde vor mir zu haben. Aber jede einzelne Stunde, nur eine kleine Stunde mehr... um mit Ihnen zu sprechen, mit Ihnen Tee zu trinken und Ihren Duft zu spüren... diese kleine Stunde, ich würde sie dem lieben Gott stehlen, wenn ich könnte. Und weil ich das nicht kann, erbitte ich sie. Und wenn Er sie mir gibt, sage ich danke.«
Annie ist nach Paris zurückgefahren.
Sie hat ihre Operation nicht geduldet, sie hat sie verlangt. Sie hat den Roman zu Ende übersetzt und ist nach Kalifornien geflogen.
Sie besucht oft Eugène Dolbois in einem Pariser Vorort. Seit zwei Jahren schon. Seit zwei Jahren... verstehen Sie? Als sie letztes Mal zusammen Tee tranken, war sie fünfundvierzig Jahre alt und er... einhundertdrei!
Und sie lebten. Alle beide.
Der letzte Wille des Fliegers
Alan Colter ist eigentlich Bauer. Er bewirtschaftet eine sehr große Farm in Kanada — 500 Hektar. Im Augenblick allerdings sitzt er im Cockpit eines Jagdflugzeugs und wirkt darin so riesig, daß er an einen Grizzlybären erinnert, der mit Hilfe eines Schuhlöffels mit aller Gewalt dort hineinbugsiert worden wäre.
Es ist ein diesig-kalter Novembertag im Jahre 1944. Mit der Aufklärungsstaffel fliegt der Kanadier gerade über den Jura auf der Suche nach den wenigen deutschen Flugzeugen, die sich noch immer an diesen Frontabschnitt wagen.
Der Anfang dieser Geschichte ist so entsetzlich banal wie bei vielen ähnlichen auch: Alan Colter hat schon acht Feindflugzeuge abgeschossen, und er hätte nichts dagegen, heute noch eines zu treffen. Obwohl die Siege in diesen Tagen nicht gerade ruhmreich sind! Die deutschen Flieger sind erschöpft, ständig im Einsatz, meistens vereinzelt, und die Leistungsfähigkeit ihrer Maschinen läßt so viel zu wünschen übrig, daß sie jetzt leichte Beute sind.
Ziemlich weit südlich, dort wo kaum noch ein deutsches Flugzeug zu erwarten ist, entdeckt Alan Colter plötzlich einen Bomber mit Hakenkreuz. Der Deutsche streift dicht über die Baumwipfel hinweg. Offensichtlich ist er vom Kurs abgekommen. Vielleicht sind auch seine Bordinstrumente beschädigt, und er sucht vergeblich nach den eigenen Stellungen, wo er landen könnte.
Sofort benachrichtigt Alan Colter per Funk seinen Stützpunkt, setzt zum Angriff an und stößt auf den Feind zu. Der deutsche Pilot versucht zu fliehen, aber er ist nicht schnell genug. Eine einzige Maschinengewehrsalve und eine schwarze, dichte Rauchwolke steigt aus dem feindlichen Flugzeug. Für den Deutschen gibt es nur noch eine Rettung — landen. Und zwar sofort. Aber wo, auf diesen schneebedeckten Feldern? Und wie, mit dem Feind im Rücken?
Als Colter wie der Blitz über die getroffene Maschine hinwegfliegt, hat er schon wieder den Daumen am Abzug. Im Bruchteil einer Sekunde sieht er das Gesicht des deutschen Fliegers und seine verzweifelten Bemühungen, die abstürzende Maschine zu halten. Da schießt der Kanadier nicht mehr:
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