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Ein Alptraum für Dollar

Ein Alptraum für Dollar

Titel: Ein Alptraum für Dollar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bellemare
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langsam, vorsichtig in dem stillen Raum herum, streift dabei leicht mit der Hand über alle Möbel, über jeden Gegenstand.
    Hier, ja, in diesen 15 Quadratmetern, hat ihr eigentliches Leben begonnen, ihr Leben als Frau. Zimmer 14, Hotel Neptune — mit Daniel, dem Vater ihrer Tochter, ihrer ersten großen Liebe. Dreiundzwanzig Jahre ist das jetzt her. In diesen schmucklosen Schrank hatten sie damals ihre Sachen gehängt, alles eingeräumt, ganz langsam, wie ein altes Ehepaar — damit es nur ja nicht so aussähe, als hätten sie es eilig! Und beide fragten sich insgeheim, ob der andere wohl auch jenes merkwürdig hohle Gefühl im Magen verspüre, wie wenn ein Aufzug zu schnell nach unten rast.
    Und von diesem kleinen Balkon aus hatte Daniel ihr das Meer gezeigt, er hatte ihr seine Jacke um die Schultern gelegt — denn sie fröstelte, obwohl ihr gar nicht kalt war! Und dann war sie es schließlich gewesen, die zuerst auf das Bett zuging. Die Daunendecke war blau damals — heute ist sie grün.
    Vom Bett aus kann man immer noch das Meer sehen. Vom Bett aus wird Annie ihre letzte Welle sehen. Bald. Jetzt packt sie aber zuerst ihren Koffer aus und legt die drei Röhrchen Veronal in die Nachttischschublade. Bald wird sich die Schleife ihres Lebens zu einem Kreis schließen.
    Sie wollte einen langen Spaziergang am Strand machen, aber es war zu kalt. So kam sie schnell wieder zurück ins Hotel und wärmt sich nun die Hände an einer großen Tasse Kaffee.
    »Seit 92 Jahren komme ich hierher! Seit 92 Jahren.«
    Eine Stimme hinter ihr knirscht wie zerstampftes Glas. Annie dreht sich verwundert um. Ihr Blick fällt auf ein unglaublich zerknittertes Gesicht.
    »Ja, Mademoiselle, da staunen Sie! Ich bin hundertundein Jahre alt... jawohl! Hundertundein Jahre!«
    Die Gestalt erhebt sich und setzt sich dann neben Annie — eine Gestalt, die an einen vertrockneten Weinstock erinnert. Die uralten Hände liegen übereinander, als hielte die eine die andere fest, und jedes Gelenk wirkt wie ein Knoten in sehr altem Holz. Der Kopf sieht aus wie eine Elfenbeinkugel, auf die ein chinesischer Künstler zehntausend winzige Furchen mit feinster Nadel eingeritzt hatte. Der sympathische, warm lächelnde Hundertjährige trägt einen Anzug, ein weißes Hemd mit Krawatte — aber der Kragen, viel zu weit, schlottert nur um den entfederten Stelzvogelhals.
    »Hundertein Jahre, Mademoiselle... Zum erstenmal bin ich mit meiner Nurse hierhergekommen, das war 1893! Ich erinnere mich noch sehr genau daran. Wissen Sie, was drollig ist? Daß ich nun wieder mit meiner Nurse da bin. Ist das nicht lustig? Ja, ja... Sehen Sie die dicke Frau da drüben mit dem schwarzen Kleid? Sie strickt immer! Das ist meine neue Nurse.«
    Diese Vorstellung amüsiert den Greis so sehr, daß er ein rasselndes Lachen ausstößt.
    »Heute bin ich aber kein braver Junge mehr! Ich gehorche nur noch, wenn ich Lust dazu habe!«
    Und wieder lacht er spitzbübisch. Erzählt aber gleich weiter:
    »Als ich ein Kind war, da gab es noch gar nichts am Strand. Überhaupt nichts. Nur Meer und Sand weit und breit. Auch dieses Hotel gab es noch nicht.
    Aber ich langweile Sie vielleicht mit meinen Erinnerungen, Mademoiselle...«
    »Nein, nein, im Gegenteil! Nur, ich kann einfach nicht glauben, daß Sie schon so alt sind! Es ist unglaublich!«
    »Und dennoch stimmt es! Ich selber finde es unglaublich, ganz phantastisch. Und ich habe meinen Kopf noch beieinander! Ich bin zwar uralt, aber senil bin ich deswegen noch lange nicht!«
    Jetzt muß auch Annie herzlich lachen mit diesem lebenslustigen Greis.
    »Ich heiße Eugène Dolbois. Und Sie?«
    »Annie Rocher.«
    »Ach, das ist ein felsenfester Name, im wahrsten Sinne des Wortes! Und... wie alt sind Sie, Annie?«
    »43 Jahre.«
    Für einen Menschen seines Alters führt Eugène Dolbois eine Unterhaltung von erstaunlicher Lebhaftigkeit. Als die Wirtin zum Mittagessen ruft, steht der alte Mann auf und entschuldigt sich: »Mademoiselle Annie, ich bitte Sie nicht, mit mir zu speisen. Wissen Sie, manchmal unterlaufen mir Ungeschicklichkeiten beim Essen. Das ist nicht sehr angenehm, weder für mein Gegenüber, noch für mich. Aber ich würde mich sehr freuen, wenn wir nachmittags unsere nette Unterhaltung fortsetzen könnten. Sagen wir... um 16 Uhr, nach meinem Nachmittagsschläfchen?«
    Annie staunt über die ungezwungene Natürlichkeit, mit der dieser Mann über die Ausfallerscheinungen seines Körpers spricht und über die selbstverständliche Grazie,

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