Ein Alptraum für Dollar
mit der er sich darauf einrichtet.
»Merkwürdig. Ich, ich habe mich nie wohl in meiner Haut gefühlt — auch nicht, als ich noch gesund war. Und dieser Mann hier, mit seinen über hundert Jahren auf dem Buckel?! Könnte ich nur einen einzigen Tag lang solch eine Lebensfreude empfinden!! Aber wie dumm von mir, ich denke ja an Zukunft! Und du hast keine Zukunft mehr, meine Liebe, finde dich endlich damit ab!«
Punkt 16 Uhr kommt Eugène Dolbois wieder in die Veranda. Annie ist noch am Strand — ein winziges Pünktchen im Watt, dort wo die leisen Wellen zwischen Ebbe und Flut den Sand sanft streicheln.
Als sie ins Hotel zurückkehrt und den alten Mann sieht, geht sie sofort zu ihm:
»Monsieur Dolbois, ich habe Sie warten lassen! Es tut mir leid.«
»Das darf Ihnen aber nicht leid tun, Annie, Sie sind eine Frau, die es verdient, daß man auf sie wartet, viel länger sogar als nur eine Viertelstunde!«
»Ja... wollen Sie mir den Hof machen?«
»Aber ich wäre ein Flegel, wenn ich das nicht täte!« Beide lachen schon wieder, und Eugène Dolbois bittet, der Tee möge jetzt serviert werden.
Zwei Stunden später weiß Annie eine ganze Menge über ihren neuen »urgroßväterlichen« Freund:
»Bis 94 habe ich mich selber um meinen Gemüsegarten gekümmert und auch viel gelesen! Heute geht es nicht mehr, die Buchstaben sind so klein geworden. Und meine Nurse liest so schlecht! So langweilig! Da schlaf ich ein dabei... Übrigens, ich habe kein Geld mehr. Überhaupt keines mehr! Aber das ist mir egal, ich habe alles, was ich brauche. Sogar diese kleinen Ferien hier kann ich mir leisten! Wie? Nun, jede Gemeinde hat nicht das Glück, einen Hundertjährigen zu >besitzen »Mir? Nun... doch, doch, es geht schon! Nur ein wenig müde vielleicht.«
Am Abend versucht Annie, an ihrer Übersetzung zu arbeiten, aber sie ist mit ihren Gedanken ganz woanders, und die zerknüllten Blätter türmen sich im Papierkorb. Am folgenden Tag trifft sie Eugène Dolbois wieder.
Er legt seine ausgemergelte, knorrige Hand auf Annies Arm und sagt, dieses Mal sehr ernst:
»Verzeihen Sie mir, Annie, wenn ich gestern indiskret gewesen bin — aber ich werde es heute noch viel mehr sein. Erzählen Sie mir: Was macht Ihnen Kummer?«
Die junge Frau will protestieren und sagen, daß wirklich alles in Ordnung sei, aber auf einmal scheint es ihr völlig sinnlos, etwas verbergen zu wollen. So, als ob sie sich mit diesem Menschen, der beinahe außerhalb der Wirklichkeit steht, plötzlich jenseits von Zeit und Raum befände:
»Sie haben schon recht, Monsieur Dolbois. Es geht mir nicht gut. Nichts geht gut in meinem Leben. Angefangen hat es mit meiner Mutter — ich konnte nie mit ihr reden. Später dann war da ein Mann, der Vater meiner Tochter... mit ihm bin ich zum ersten Mal hierhergekommen. Er hat mich ziemlich bald verlassen. Ja, dann mein Mann! Mit ihm ging es auch schief... er war der König der Schürzenjäger, und eines Tages blieb er ganz weg... Und meine Tochter? Ich kenne niemanden, der mir so fremd ist wie sie. Sie lebt jetzt in Kalifornien. Vor ihrer Abreise haben wir uns nur noch gestritten. Jetzt schreibt sie einmal im Jahr zu Weihnachten leere, oberflächliche Worte... und die Kleine, meine Enkelin, die kenne ich nur von Photos. Im Grunde... sind sie alle Fremde für mich, verstehen Sie, Monsieur Dolbois?«
Der Greis scheint zu schlafen, die Augen sind geschlossen, aber seine Stimme klingt ganz fest:
»Sie fragen, ob ich Sie verstehe, meine kleine Annie? Heißt das, ich soll Sie bedauern? In dem Fall muß ich Sie enttäuschen. Nein, ich kann Sie nicht bedauern! Ich erzähle Ihnen lieber ein paar Dinge von mir, machen Sie daraus, was Sie wollen. Wir sind im Jahre
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