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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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Seither war er mit seinem Vater auf der Suche nach Grundstücken, die sich als Spekulationsobjekt eigneten, ein paarmal auf Erkundungstour in entlegene Gegenden gefahren; dabei übernachteten sie stets in äußerst primitiven Farmhäusern, meilenweit weg von Telefonen und städtischer Wasserversorgung, und Vance fand den fehlenden Komfort herrlich und genoss das morgendliche Waschen unter der Pumpe. Doch das war in der Wildnis gewesen, wo das neue Land noch nicht vom Geschäftsgeist erobert und gezähmt war. An dem Städtchen Paul’s Landing hingegen war einfach jede Art von Unternehmungsgeist vorübergegangen, als hätten seine Einwohner die Epoche der industriellen Entwicklung, die Vance Weston als höchste Leistung der Menschheit zu betrachten gelernt hatte, völlig verschlafen. Wenn Euphorias Werte die richtigen waren – und durch welche anderen hätte er sie ersetzen sollen? –, dann waren Menschen, die nicht nach ihnen strebten, von vornherein«erledigt», waren für die Religion des Geschäftslebens genau solcher Abschaum wie Diebe und Ehebrecher für das Christentum. Und hier, in dem Teil seines riesigen Landes, der der Inbegriff dessen war, wonach im Westen die Reichen strebten und wovon die Ehrgeizigen träumten, war Vance nun in einem Gemeinwesen gelandet, das von solchem Streben und solchem Ehrgeiz offensichtlich keine Ahnung hatte.«Es wirkt, als würden sie rund um die Uhr im Bett liegen», dachte Vance in Erinnerung an die verschlafene Hauptstraße mit ihren durchhängenden Markisen und den Pferdefuhrwerken, und ihn beschlich das Gefühl, als sei das Haus der Tracys keine Einzelerscheinung, sondern Teil einer gewaltigen Naturkatastrophe.«Als wären sie vor Jahrhunderten von einem Erdrutsch verschüttet worden und würden unten drunter einfach weitervegetieren, wie diese Kröten, die in einem Stein überleben können.»Und über diesem wirren Vergleich fiel der junge Reisende in Schlaf.

5
    Vance schlief fast so lange, wie er es den Einwohnern von Paul’s Landing metaphorisch unterstellt hatte. Als er aufwachte, sah er an der Zimmerdecke ein Muster aus irrlichterndem Laubwerk und quer über dem Boden einen Streifen Sonnenlicht. Durchs Fenster drang heiße, schwüle Luft herein, und Fliegen surrten gegen die Scheibe. Als er sich umschaute und sein Blick auf die ausgebleichte Streifentapete fiel, auf den zerbrochenen Gartenstuhl mit seiner Kleidung und auf den Wasserkrug mit der abgeschlagenen Tülle in dem altmodischen Waschgestell, überfiel ihn das Heimweh, und sehnsüchtig dachte er an die Frühlingssonnenuntergänge hinter den Feldern von Crampton und an den Duft der verwilderten Fliedersträucher seiner Großmutter. So stark war dieses Gefühl, dass er den Duft tatsächlich zu riechen meinte. Er stützte sich auf, und da lag auf dem Kissen ein weißer Fliederzweig und erfüllte das Zimmer mit Juni.
    « Das ist aber nett von ihnen», dachte Vance und vergrub sein Gesicht in den elfenbeinfarbenen Dolden. Ihm fiel ein, wie seine Großmutter an einem heißen Juniabend auf der Veranda in Crampton einmal gesagt hatte:«Das Salbtieglein, das Maria Magdalena über den Füßen unseres Herrn zerbrochen hat, war bestimmt aus Flieder gemacht.» 15 Dieser Gedanke hatte ihm gefallen, und er hätte gern ein Gedicht daraus gemacht, üppig und schwer von duftenden Worten. Die schwelgerischen Träumereien seiner Großmutter regten seine Phantasie oft auf solche Weise an.
    Wahrscheinlich war Upton oder vielleicht auch Mrs Tracy hereingekommen, während er schlief, und hatte die Blumen auf sein Bett gelegt, weil er von Großmama Scrimsers Flieder erzählt hatte.«Vermutlich Upton», überlegte er.«Netter Kerl, hat anscheinend nur Gärten im Kopf.»Er atmete den Blumenduft noch einmal tief ein, stolperte aus dem Bett, goss Wasser in die zerbrochene Waschschüssel und tauchte den Kopf hinein. Daraufhin erwachten seine Lebensgeister, er beeilte sich mit dem Waschen und Anziehen, weil er rasch hinunter wollte, denn seine Uhr zeigte schon nach Mittag, und er schämte sich, dass er an seinem ersten Morgen so spät aufstand.
    Sein Fenster ging nach hinten hinaus. Ganz nah standen die Bäume, die ihr unruhiges Gekritzel an die Zimmerdecke über seinem Bett warfen, und dahinter lag ein kleines Stück Land mit Gemüse, durch Johannis- und Stachelbeersträucher in Rechtecke unterteilt und durch einen Zaun getrennt von anderen Gemüsegärten, die sich bis zu einem unregelmäßigen Waldsaum den Berg hinaufzogen. Noch mehr

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