Ein altes Haus am Hudson River
sich zu seiner tiefen Müdigkeit noch ein Gefühl der Mutlosigkeit. Seine Mutter hatte gesagt:«Warte nur ab, dann wirst du schon sehen» – und er sah.
Das alte Pferd trottete mit ihnen durch Paul’s Landing, eine lang gestreckte, gekrümmte Art Stadt auf einem hohen Bergkamm mit Gärten voller großer Bäume und rasenbewachsener Böschungen vor verschachtelten, schäbigen Häusern. Hie und da führte eine schmalere Straße nach links hügelabwärts, und Vance gewahrte kurz glitzerndes graues Wasser, das sich wie ein See bis zu fernen Bergen erstreckte.«Der Hudson», erklärte Upton und schnalzte mit seinem Peitschenstummel, und der Name erregte Vance mehr als der Blick auf das weite Wasser. Sie fuhren durch eine lange Straße mit Läden, Reparaturwerkstätten und Geschäftshäusern, die alle mehr oder weniger ungestrichen und baufällig waren und durchhängende Markisen besaßen, die man gegen die vorzeitige Frühjahrshitze herabgelassen hatte, dann ein ausgefahrenes Sträßchen bergauf zwischen Bäumen und kleinen Holzhäusern hindurch, die noch schäbiger aussahen als die anderen, obwohl vor manchen hübsche Blumen standen und Flieder und Pfeifensträucher blühten, noch üppiger als im Garten von Großmama Scrimser.
« Das ist es», sagte Upton, nun noch schüchterner und noch mehr um Entschuldigung bemüht.«Es»war ein kleines, dunkelbraun gestrichenes Holzhaus, von dem die Farbe schon abblätterte, und in einer Ecke des Vorgartens stand eine eingestürzte Pergola. Bäume warfen ihren Schatten auf das Haus, und an der Veranda wucherte eine Kletterrose, doch insgesamt wirkte das Anwesen vernachlässigt und schmuddelig, rückständig wie das jämmerliche Haus der Delaneys, an das zu denken Vance noch immer vermied.
« Hier gibt’s anscheinend überall viele Bäume», stellte er fest und wünschte, ihm fiele eine zündendere Bemerkung ein.
« Gibt es bei euch denn nicht so viele?», fragte Upton.
« Weiß nicht», murmelte Vance, plötzlich auf der Hut, um nicht etwa eine Unterlegenheit Euphorias zuzugeben, und sei es nur hinsichtlich der Menge von Schatten, die seine Bäume spendeten.«Ich glaube, sie sind einfach anders, so wie auch sonst alles», fügte er hinzu.
Ganz bestimmt anders war Mrs Tracy, die nun auf der Schwelle erschien – nicht nur anders als die fröhliche Braut in Knallrosa, die auf der Hochzeitsreise ihre Verwandten im Westen geblendet hatte, sondern auch anders als alle Frauen in Vance’ Familie. Sie war klein und dünn wie Mrs Weston, verfügte aber nicht über deren scharfe Kontur und durchdringendes Wesen. Mrs Tracy hatte etwas Schwankendes, Verschattetes wie ihr verdunkelter Vorgarten, besaß aber eine geisterhafte Anmut, als erblicke man sie durch einen Schleier, weniger durch den Schleier der Jahre als durch den des Scheiterns. Anders als Großmama Scrimser stand sie ihrer Schönheit nicht gleichgültig gegenüber, sondern resigniert, wie ihrem ganzen Leben, vermutete Vance. Doch ein so freundliches Begrüßungslächeln hätte seine eigene Mutter nicht zustande gebracht.«Ich glaube, es ist in Ordnung hier», dachte Vance, und seine gereizten Nerven entspannten sich.
« Du siehst sehr müde aus, die Reise muss furchtbar gewesen sein. Komm gleich herein zum Abendessen», sagte Mrs Tracy und schob ihren Arm unter den seinen.
Es war seltsam – aber weil neu, auch vergnüglich –, um einen Tisch zu sitzen, der von einer kuriosen, stinkenden Petroleumlampe mit einem gravierten Zylinder beleuchtet wurde, in einem kleinen Esszimmer mit dunkelbrauner Tapete und einer sperrigen, ausladenden Anrichte, offensichtlich einem Sonderangebot, denn sie passte nirgendwo hin. Mrs Tracy saß Vance gegenüber, lächelte ihn quer über die Teetassen hinweg wehmütig an und erkundigte sich freundlich nach allen in Euphoria. Sie erinnerte sich, in was für einem hübschen Häuschen die Westons in Advance gewohnt hatten, als sie auf der Hochzeitsreise dorthin gekommen und Vance noch ein Baby gewesen war. Als Vance ihr Lob lächelnd abtat und sagte, sie hätten jetzt in Euphoria ein viel größeres Haus, erwiderte sie, seine Mutter habe sicher alles hübsch eingerichtet, und fragte dann weiter nach der wunderbaren Großmama Scrimser und Tante Saidie Toler. Vance fiel auf, dass sie weit mehr über die Familie wusste als die Familie über sie, sie besaß wohl das, was Großmama Scrimser« ein Gedächtnis wie eine Familienbibel»nannte.
Upton ließ sich auf den Stuhl zwischen seiner Mutter und Vance
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