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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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Bäume – Bäume überall, größer, üppiger und weiter verzweigt als die in der heimatlichen Prärie. Oben am Berg wölbten sie sich zu einer riesigen bläulichen Masse, einer neben dem anderen, wie die Dächer einer geheimnisvollen, aus Laub erbauten Stadt. Auch diese Vorstellung gefiel Vance, und er hätte gern innegehalten und sie in Verse gefasst, so wie den Gedanken seiner Großmutter über den Flieder. Unter dem Zauber der ungewohnten Umgebung und der Liebkosung des Sommertags regte sich in ihm die lange verborgene Fähigkeit, Gedichte zu schreiben; er vergaß alle Eile und die Sorge, ob man ihm ein Frühstück aufgehoben hatte, setzte sich an den Tisch vorm Fenster und zog seinen Füller und einen Zettel aus der Tasche. Seit frühester Kindheit steckten immer ein paar Zettel in seinen Hosentaschen.
    « Geheim und fern und unerforschlich wie die Seele …»Eine gute erste Zeile für ein Gedicht über die Stadt aus Laub, die natürlich ein Wald war. Unerforschlich wie die Seele. Es gab Zeiten, da war seine Seele wie ein Wald, voller Schatten und Gemurmel, geheim und fern, ein Ort, wo man sich verirren konnte, fast zu furchterregend, um dort allein zu sein. Und dann: unerforschlich. Auch das stimmte. Manchmal kam ihm die eigene Seele wie ein Fremdling vor, ein Fremdling, der eine Sprache sprach, die er nie gelernt oder aber vergessen hatte. Noch so ein gutes Bild: das Bild vom geheimnisvollen Fremden im eigenen Innern, der einem unter die Haut ging und doch ein Gesicht und eine Sprache hatte, die einem für immer unbekannt blieb. Sein Herz klopfte vor jäher, noch unformulierter Beredsamkeit, Worte und Wogen von Gefühl kämpften darum, sich ineinander zu fügen und zu Gedanken und Musik zu werden.
    « Schwer vom Geruch des Sommers» – wie passte das zum Flieder? Nein, zu schwer. Er wollte sagen, dass für die Bienen schon der Duft des Flieders reichte, um Honig daraus zu machen, wollte, dass es heiter klang, schwirrend, wie das Summen der Bienen, bevor sie sich niederlassen. Und dann ein Orgelton am Ende, wo das Salbtieglein zerbricht und Jesus Magdalenas Geste mit dem Duft der Heiligkeit vergleicht, dem lieblichen Geruch, den sie verströmen sollte und so selten verströmt. Geruchlose Heiligkeit … auch darüber konnte man schreiben. Wie ein Bild das andere lockend nach sich zog! Und er konnte ihnen nicht Einhalt gebieten, sie oft nicht einmal lang genug festhalten, um ihre Umrisse zu zeichnen, bevor sie verschwanden …
    Er schrieb in dem stickigen, schmutzigen Zimmer, neben sich das zerwühlte Bett, immer weiter, während die Fliegen gegen die Fensterscheibe bummsten und der Streifen Sonnenlicht sich langsam über die Wand schob, er schrieb und vergaß Zeit und Raum, seinen gesunden Morgenhunger und die Tatsache, dass er sich in einem fremden Haus befand, wo sein Nichterscheinen vielleicht für Unruhe oder Befremden sorgte. Worte für ein Gedicht, dann für ein zweites stiegen in ihm auf und mischten sich wirr und erregt in seinem halb wachen Hirn. Manchmal blieb er an einem Wort um seiner Schönheit willen hängen, dann spross ein neues Gedicht daraus hervor, als sei das Wort ein Samenkorn, das in das Treibhaus seiner Phantasie gefallen war. Zusammenhanglos, bedeutungslos und verführerisch reihten sie sich aneinander, auf einem Papierschnipsel nach dem anderen, bis er den Füller hinwarf und den zerzausten Kopf in den Händen barg.
    Durch seinen Traum hindurch hörte er ein Klopfen und schrak hoch. Es war Mrs Tracy, die mit einer Tasse Kaffee hereinkam. Er solle sich nichts denken, weil er so lang geschlafen habe, sagte sie sofort, das sei nach seiner Krankheit und der langen Fahrt das Beste für ihn.«Schlaf ist für junge Menschen die beste Medizin», sagte sie mit ihrem traurigen Lächeln.«Aber du hast gestern Abend nicht viel gegessen, am besten trinkst du den Kaffee sofort, solange er noch heiß ist. Er wird dir schon nicht den Appetit aufs Mittagessen nehmen.»Sie stellte das Tablett neben ihm ab, während er eine Entschuldigung stammelte, und fuhr mit einem Blick auf die vor ihm liegenden Papierschnipsel im selben freundlichen Ton fort:«Wenn du arbeiten musst – unten auf der rückwärtigen Veranda ist es kühler als hier, dort weht eine leichte Brise vom Fluss herauf. Im Juni haben wir immer so eine Hitzewelle.»
    Vance bedankte sich und sagte, er komme gleich hinunter. Sie zeigte auf die Fliederblüte in seiner Jacke.«Aber ich sehe, du bist schon unten gewesen. Du bist wie ich, du magst

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