Ein altes Haus am Hudson River
wenn sie ihm angeboten hätte, einen Blick auf die Manuskripte des jungen Weston zu werfen.«Natürlich könntest du das, meine Liebe, für den Jungen wäre das ein großes Glück – aber ich muss mir die Unabhängigkeit meines Urteils bewahren. Wenn du in dem armen Teufel falsche Hoffnungen weckst, dich hinreißen lässt, wie schon einmal durch seine Gedichte, dann wird es für mich verdammt schwer, ihn später abzulehnen.»Sie hörte ihn förmlich so reden und wusste, dass die Genugtuung, seine Überlegenheit zu beweisen, indem er schlechtmachte, was sie gelobt hatte, jeden Verlust eines möglichen Nutzens aufwog.«Ach, der junge Weston wird sich schon wieder melden», beruhigte sie ihn flüchtig, als Tarrant aufstand, um zu gehen.
Die Tür schloss sich hinter ihm, und sie saß da, den ganzen goldenen Nachmittag vor sich.«Wir haben noch nie einen so schönen November gehabt», dachte sie, und durch ihren Kopf tanzten Bilder von glücklichen Menschen, jung, stark, selbstbewusst, die durstig die letzten Tropfen Herbstsonne tranken. In ihrer Vorstellung waren diese Menschen immer zu zweit. Früher war das nicht so, da hatte sie oft von Einsamkeit geträumt. Doch jetzt, da sie kaum jemals allein war, fühlte sie sich oft einsam. Einsam! Ein Wort, das sie in ihrem Vokabular nicht zuließ, doch das Gefühl existierte; kalt und ein wenig übelkeiterregend nagte es an den Wurzeln ihres Lebens … Was für ein Unsinn! Sie beraubte ja den armen Lewis seines stolzen Vorrechts auf Einsamkeit. Als ob eine junge Frau mit ihren Mitteln und Geistesgaben nicht mehr als genug hätte, womit sie die Stunden vollpacken konnte! An das große Fenster gelehnt, blickte sie auf die breit daliegende Stadt hinunter und erinnerte sich, wie sie zum ersten Mal hier gestanden hatte und das Pochen dieser unzähligen Herzen im eigenen Leib zu spüren schien.«Bin ich müde? Was fehlt mir nur in letzter Zeit?», fragte sie sich. Sollte sie sich den Chrysler aus der Garage kommen lassen und am Abend nach Paul’s Landing hinausfahren, wo die Familie Thanksgiving verbrachte? Es wäre spaßig, in Eaglewood aufzutauchen, lang nach Einbruch der Dunkelheit, wenn in der eisigen Novemberluft die glitzernden Lichter am Hudson schon von Weitem zu sehen waren, und dann, in Pelz eingemummelt, in den schäbigen Salon zu treten, wo Mr und Mrs Spear vor dem Kamin sitzen und genüsslich die Freveltaten in fernen Ländern verurteilen würden … Nein, lieber nicht … Es war angenehm, in New York von Eaglewood zu träumen, aber wenn sie dorthin zurückkehrte, versetzte es ihr immer einen Stich.
Sie versank ins Träumen über den Wald im Spätsommer, ihren Wald … Wenn das Laub am dichtesten war, schon hie und da gelb wurde und ein noch grüner Ahorn vorzeitig scharlachrote oder weinrote Flecken bekam, wie die erste weiße Strähne im Haar einer jungen Frau … Tage am Thundertop, ein kurzes Bad im Waldsee bei Sonnenaufgang, stundenlange Träumereien auf dem Felsgipfel überm Hudson – wie schön war es an jenem Morgen gewesen, als sie dort mit dem jungen Weston gestanden und zugesehen hatte, wie das Licht in die Welt zurückkehrte und die Dunstschleier zerriss, eine Flut aus strahlendem Glanz, wie das erste Erstehen des Lebens aus dem Chaos!«Er hat auch so empfunden – ich habe es die ganze Zeit an seinen Augen gesehen», dachte sie; diese Augen hatten es mit ihren Augen gesehen. Vielleicht hatte sie deshalb trotz seiner Schüchternheit und seines entsetzlichen Vortrags einen eigenen, wahrhaftigen Ton herausgehört, als er ihr seine Gedichte vortrug. Hatte sie sich geirrt? Sie wusste es nicht. Bestimmt nicht bei der Erzählung, die Lewis neulich mitgebracht hatte. Das war mit Sicherheit etwas Echtes, und sie war froh, dass Lewis auch so empfand, sofort so empfunden hatte; sie freute sich immer, wenn sie etwas ähnlich auffassten. Vielleicht war der Junge wirklich eine große Entdeckung, ein Triumph für Lewis, ein Triumph für«Die Stunde»! Als sie sich damals an dem moosbewachsenen Teichufer zurückgelehnt hatte, so erinnerte sie sich, waren spitze Laubschatten über seine Stirn geflackert und schienen sie zu bekränzen wie die eines Dichters … Armes, kleines unerfahrenes Produkt einer genormten Welt, das vielleicht nie mehr so mit Lorbeer bekränzt würde!
Sie wandte sich um, ging wieder zum Kamin und blickte im Vorübergehen auf die Bücher, die sie mit eigener Hand geordnet und so eifrig katalogisiert hatte.«Was ich mir heute wünsche, ist das Buch,
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