Ein altes Haus am Hudson River
noch den Lorbeerschatten auf seiner Stirn finden würde? Als sie die Bibliothek betrat, war ihr erster Eindruck, dass er gedrungener war, kleiner, als sie in Erinnerung hatte, aber schließlich hatte sie in der Zwischenzeit mit einem Mann von beeindruckender Größe zusammengelebt. Dieser junge Mann – und wie jung er noch aussah! – war genauso groß wie sie. Er war ein wenig breiter geworden, das braune, leicht gewellte Haar kam ihr jetzt dunkler vor. Weitere Beobachtungen vermochte sie nicht mehr anzustellen, denn noch ehe sie ihn begrüßen konnte, rief er schon aus:«Hier sind ja noch mehr Bücher als in The Willows!»Ja, daran erkannte sie ihn wieder – an seiner Eigenart, schnurstracks auf sein Thema loszugehen, alle üblichen Einleitungsfloskeln zu überspringen, dabei so ruhig, so naiv, dass es ganz natürlich wirkte.
Sie blickte ihn leise lächelnd an.«Machen Sie sich immer noch so viel aus Büchern?»
Statt einer Antwort sagte er:«Meinen Sie, ich kann mir einige ausleihen? Ich muss mich sofort in die Arbeit stürzen. Ich sehe, sie sind nach Themen geordnet, ah, hier steht die Philosophie …»Halb verärgert, halb amüsiert, weil er sie wie eine Bibliothekarin behandelte (eigentlich wie eine Hilfsbibliothekarin, korrigierte sie sich ironisch), fragte sie ihn, ob er sich mit Philosophie befasse, und er sagte, ja, hauptsächlich das – und Italienisch, damit er Dante lesen könne.
« Dante?», rief sie.«Als Kind habe ich längere Zeit in Italien gelebt. Vielleicht kann ich Ihnen bei Dante helfen.»
Seine Augen leuchteten auf.«Wirklich? Meinen Sie, ich könnte abends vorbeikommen, drei- oder viermal in der Woche, und nach dem Abendessen mit Ihnen lesen?»
Ein wenig überrascht antwortete sie, sie wisse nicht, ob sie abends so viel freie Zeit erübrigen könne. Sie gingen viel aus, sie und ihr Mann – ins Theater, in Konzerte; eine große Stadt wie New York habe an Abendunterhaltung viel zu bieten. Dass hierzu auch häufige Restaurantbesuche gehörten, erwähnte sie nicht. Ob er nicht stattdessen am frühen Nachmittag kommen wolle, bis vier Uhr habe sie meist keine Verpflichtungen. Sichtlich enttäuscht schüttelte er den Kopf.«Nein, das geht nicht. Tagsüber muss ich meine eigenen Sachen schreiben.»
Aha, soso – seine eigenen Sachen! Deswegen komme er wohl zu ihrem Mann? Der sei leider geschäftlich unterwegs, er habe Mr Weston gestern Vormittag in der Redaktion erwartet, ihres Wissens habe Mr Weston die Uhrzeit selbst vorgeschlagen. Ihr Mann habe den ganzen Vormittag gewartet, er sei jedoch nicht aufgetaucht. Ihre Zunge stolperte über dieses«Mr Weston», es klang steif und gespreizt; in The Willows hatte sie ihn von Anfang an ganz selbstverständlich Vance genannt. Aber irgendetwas vermittelte ihr das Gefühl, dass sie sein Vertrauen nicht mehr genoss, vielleicht hatte er auch nur vergessen, welch gute Freunde sie gewesen waren. Der Gedanke beunruhigte sie und machte sie ein wenig befangen. Es war, als hätten sie die Rollen getauscht.«Mein Mann hat Sie erwartet, aber Sie sind nicht gekommen», wiederholte sie mit sanftem Vorwurf.
Nein, er sei nicht gekommen. Er habe es vorgehabt, gleich gestern nach der Ankunft des Zuges, aber er habe nicht kommen können. Er konstatierte dies als schlichte Tatsache, ohne Verlegenheit oder Bedauern, und beließ es dabei.
Halo empfand eine Art Lustlosigkeit, eine Ungewissheit, wie sie weiter vorgehen solle.«Und heute Vormittag?»
« Heute Vormittag konnte ich auch nicht. Ich war vor einer halben Stunde dort, aber die Redakteure waren alle schon weg, und der Pförtner hat gesagt, ich solle stattdessen hierherkommen. »
« Ja, das habe ich Ihnen ausrichten lassen, weil mein Mann nicht da ist.»
Mit einem Mal fiel ihr auf, dass sie noch mitten im Zimmer standen und ihre Erklärungen auf ebendem Fleck austauschten, auf dem er gestanden hatte, als sie eintrat. Sie bedeutete ihm, in einem der Sessel am Kamin Platz zu nehmen, und ließ sich selbst in den anderen sinken. Zwielicht hatte sich in den Winkeln des von Büchern umrahmten Zimmers gesammelt, und im Dämmer loderte das Feuer umso geheimnisvoller. Ihr Besucher beugte sich nach vorn.«Ich habe noch nie ein so schönes Feuer gesehen – das ist ja echtes Holz», rief er aus und fiel vor dem Kamin auf die Knie, als wollte er diese sonderbare Entdeckung näher untersuchen.
« Natürlich. Wir verbrennen nie etwas anderes.»
Das schien ihn zu überraschen, und er hob sein vom Feuer beleuchtetes
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