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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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zarten Geschöpf, als hätten die sonst im Streit liegenden Kräfte des Körpers und der Seele in ihr zu einer Harmonie gefunden. Sie anzuschauen war fast so, wie sie anzufassen.
    Doch jetzt wurde es kalt; Vance merkte, dass sie blass geworden war und ab und zu hustete. Sein Beschützerinstinkt erwachte.« Hör mal, wir dürfen nicht hier sitzen bleiben, bis du dich erkältest. Wo wollen wir hin? Sollen wir in die Stadt zurückspazieren und zum Aufwärmen eine Tasse heißen Kaffee trinken, bevor ich wieder zum Zug muss?»Sie stimmte zu, und sie gingen Richtung Tor. Während Laura Lou sich zum Vorhängeschloss bückte, blickte Vance sehnsüchtig auf das alte Haus zurück.«Jetzt kommen wir öfter hierher, nicht wahr?»
    Das Tor hatte sich hinter ihnen geschlossen, und Laura Lou machte ein paar Schritte, bevor sie antwortete.«Ach, ich weiß nicht, Vance. Es war schwer genug, den Schlüssel aus Mutters Schublade zu holen, ohne dass sie was merkte … Außerdem bin ich an Werktagen nicht hier; ich gehe ja zur Schule.»
    « Deine Mutter wird nichts dagegen haben, dass wir hierherkommen, wenn wir erst verheiratet sind», gab Vance seelenruhig zur Antwort.
    « Verheiratet?»Sie blieb mitten auf der Straße stehen und blickte ihn mit ungläubig geweiteten Augen an. Ihre blassrosa Lippen fingen an zu zittern.«Wie soll das denn gehen, Vance?»
    « Wieso soll das nicht gehen, möchte ich mal wissen! Ich verdiene bald genug.»Davon war er aufrichtig überzeugt.«Schau, Laura Lou, wenn ich mein Leben in New York beginne, möchte ich mit dir verheiratet sein. Morgen komme ich und sage es deiner Mutter und Upton. Du gehst doch erst am Montag wieder in die Schule, oder? Kann ich morgen schon vormittags kommen und mit euch essen?»
    Ein Schatten banger Ahnung flog über ihr Gesicht.«O liebster Vance – nicht morgen.»
    « Warum nicht?»
    « Weil morgen Sonntag ist, und Sonntag ist Buntys Tag.»Sie gab diese Erklärung mit fast tragischer Schlichtheit ab, wie eine Tatsache, die man weder verhehlen noch ändern kann.
    « Buntys Tag?»Der Zorn durchfuhr ihn wie ein Donnerschlag.« Wie kannst du nach diesem Nachmittag … wie kannst du es wagen, so etwas zu sagen, als würdest du zu diesem Kerl gehören und nicht zu mir? Weißt du nicht, dass wir einander für immer gehören, Laura Lou? Sag ja, sag, dass du das immer gewusst hast!», befahl er ihr.
    « Aber ich war doch mit ihm verlobt», murmelte sie mit ihrer sanften Hartnäckigkeit.
    « Selbst wenn – jetzt bist du es nicht mehr. Wie konnte dich deine Mutter überhaupt mit einem solchen Kerl herumziehen lassen? Als ich bei euch war, hielt sie reichlich wenig von ihm.»
    « Nun ja, anfangs mochte sie ihn nicht; sie fand, er sei nicht der richtige Umgang für Upton. Aber du weißt nicht, wie sehr er sich verändert hat, Vance. Er hat Mutter geholfen, als sie ihre Arbeit verlor, und er bezahlt auch meine Ausbildung an der St.-Elfrida-Schule. Er ist selbst sehr kultiviert und möchte, dass ich es auch bin, damit wir im Lauf der Zeit die Reiseleitung bei den Europareisen der großen Agenturen übernehmen und viel Geld verdienen können. Das hat Mutter als Erstes mit ihm versöhnt – dass er so kultiviert ist, meine ich. Sie hat sich immer gewünscht, dass ich jemanden aus Vaters Gesellschaftsschicht heirate.»
    Vance stand da und lauschte mit einem wilden Gemisch von Wut und Verblüffung. Noch nie hatte sie so viel auf einmal gesprochen, und jedes ihrer Worte war für ihn die reine Qual. Die Welt erschien ihm von Grund auf schlecht, so wie damals am Flussufer von Crampton, als dieses Gefühl ihn völlig übermannt hatte. Das Leben schmeckte wie Asche. Schließlich brach sich seine Empörung in einer Flut wirrer Beschimpfungen Bahn.« Er zahlt für dich das Schulgeld, dieser elende Herumtreiber? Du weißt nicht, was du sagst, Laura Lou! Kultiviert – er? Aus der Gesellschaftsschicht deines Vaters? O Gott! Es wäre zum Lachen, wenn einem nicht so übel davon würde …! Morgen besuche ich deine Mutter, ob du’s willst oder nicht, verstanden? Und wenn dieser Hayes auch kommen will, soll er doch. Ich bin da und werde mit ihm reden. Und ich werde Tag und Nacht arbeiten, bis ich ihm zurückgezahlt habe, was er deiner Mutter für dich gegeben hat. Morgen wirst du diese Schule verlassen, Laura Lou, hörst du?»
    « Nein, nein, Vance.»Ihr kleines, blasses Gesicht wirkte merkwürdig entschlossen und ihre Stimme auch.«Du darfst morgen nicht kommen – es würde mich umbringen. Du musst mir

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