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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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brachten.« Genies sind sprichwörtlich unpünktlich», gab sie zu bedenken.
    « Ach, Genies …!»Mit einem Achselzucken tat er das Wort ab. Aber bitte, wenn ihr daran gelegen war …«Am Ende bringt er vielleicht nie mehr etwas zustande. Eine gute Geschichte macht noch keinen Sommer.»
    « Nein, und der Mittelmäßige neigt ebenso zur Unpünktlichkeit wie das Genie.»
    « Unpünktlichkeit? Der Kerl kam überhaupt nicht! Hat selbst die Uhrzeit vorgeschlagen, elf Uhr. Ich habe zwei andere wichtige Termine abgesagt und in der Redaktion bis nach halb zwei auf ihn gewartet. Ich hatte eigentlich vorgehabt, ihn ins ‹Café Jacques› zum Lunch mitzunehmen. So ein junger Niemand taut oft leichter auf, wenn man ihm erst einmal zu essen gibt und ihn ermutigt, über sich selbst zu reden. Eitelkeit», sagte Tarrant, als das Mädchen mit einem dampfenden Gericht erschien,«Eitelkeit ist das erste Knöpfchen, das man drücken muss … Eier? Herr im Himmel, Halo, weiß diese Köchin immer noch nicht, dass Eier mein Tod sind? Na gut, ich esse den Speck. Was gibt’s außerdem? Ein Kotelett grillen? Diese ewigen Koteletts! Ja, natürlich geht das …»Er wandte sich seiner Frau zu, mit jenem schwachen Lächeln, das ihm kleine, spröde Fältchen in den Mundwinkel ritzte.«Die kulinarische Phantasie deiner Mutter hast du jedenfalls nicht geerbt, Halo.»
    « Nein», antwortete sie gutmütig, fügte aber mit einem Anflug von Bitterkeit hinzu:«An eine Verdauung wie die deine wäre das auch verschwendet.»
    Ihr Mann wurde ein wenig blass. Sie sagte so selten etwas Unangenehmes, dass es ihn dann doppelt beleidigte.«Ich könnte antworten, dass ich eine bessere Verdauung hätte, wenn ich etwas Besseres zu essen bekäme», sagte er.
    « Ja, und ich könnte antworten, dass ich dir ein spannenderes Essen bieten könnte, wenn dein Repertoire nicht so begrenzt wäre. Aber ich gebe lieber gleich zu, dass ich noch nie Mutters Talent in Essensdingen besessen habe, und es wundert mich nicht, dass meine Menüs dich langweilen.»So endeten ihre kleinen ehelichen Kabbeleien immer – indem sie ihm halb verächtlich den Brocken hinwarf, den er wollte.
    Er sagte mit jenem schmollenden Unterton, der seine Bußfertigkeit so oft beeinträchtigte:«Zweifellos bin ich weniger leicht zu verköstigen als so ein Vielfraß wie Frenside …», nahm sich verstohlen ein Ei vom Teller und fuhr dann fort:«Es ist verdammt ärgerlich, dass all meine Pläne so über den Haufen geworfen wurden. Und das von einem Burschen, den ich schon fast als festen Mitarbeiter gesehen habe!»
    Halo gab zu bedenken, dass vielleicht sein Zug Verspätung gehabt habe oder mit einem anderen zusammengestoßen sei – am Ende liege er schon tot unter Unfalltrümmern. Aber Tarrant knurrte:«Wenn jemand eine Verabredung nicht einhält, dann niemals, weil er tot ist.»Was sie aus eigener Erfahrung bestätigen konnte.
    « Er wird bestimmt heute Nachmittag auftauchen», sagte sie tröstend wie zu einem Kind, das allzu lang auf einen versprochenen Spaß warten muss, aber diese Aussicht bot Tarrant keinen Trost. Ein wenig spitz erinnerte er sie daran (denn er mochte es, wenn sie seine – zufällig erwähnten – Verabredungen im Kopf hatte), dass er um drei Uhr mit dem Zug nach Philadelphia fahre, zu einer wichtigen Besprechung mit einer Druckerei, die ihm Kostenvoranschläge vorlegen wollte. Keinesfalls werde er heute noch in die Redaktion zurückkehren; womöglich müsse er von Philadelphia gleich mit dem Nachtzug nach Boston fahren; dort habe er den ganzen Samstagvormittag geschäftlich zu tun, ebenfalls in Zusammenhang mit der Zeitschrift. Er wisse nicht, wann er sich mit Weston werde treffen können – äußerst ärgerlich, das alles, vor allem weil der junge Schwachkopf keine New Yorker Adresse angegeben habe und sie doch gehofft hätten, in der nächsten Nummer eine Erzählung von ihm herausbringen zu können.
    Es hatte eine Zeit gegeben, da Halo sich ganz selbstverständlich erboten hätte, das Vorstellungsgespräch mit dem Missetäter zu führen. Inzwischen wusste sie es besser. Sie hatte gelernt, dass sie sich ihrem Mann in solchen Angelegenheiten nur indirekt nützlich machen konnte. Ebenjenes Band, von dem sie sich in den Anfängen ihrer Ehe am meisten versprochen hatte – gemeinsame Ideen und Interessen –, war als Erstes gerissen. Sie wusste nun, dass Tarrant den Mythos von der intellektuellen Einsamkeit für sein Selbstgefühl brauchte. Nichts hätte ihn mehr vergrätzt, als

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